Die Kirchen in der Existenzkrise

Der Christ – eine aussterbende Art?

Die Kirchen in Deutschland befinden sich in einer Existenzkrise. Seit Jahren kennen die Mitgliederzahlen nur eine Richtung: abwärts. 2018 verloren sie im Vergleich zu 2017 rund 660.000 Gläubige. Der demographische Wandel und Kirchenaustritte begünstigen diese Entwicklung. Dabei müssten christliche Werte wie Vergebung, Humanismus und Toleranz gerade heutzutage, wo immer mehr Menschen Opfer von Hass und Gewalt werden, verfangen.

Beide Kirchen plagt ein enormer Mitgliederschwund

„Viele Themen, die in den Medien behandelt werden, haben eine Berührung zur Kirche oder zu kirchlichen Themen“, meint Carsten Splitt, Pressesprecher der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Ethische und Orientierungsfragen würden dort häufig behandelt. Dennoch zeigen die schwindenden Mitgliederzahlen, dass beide Glaubensgemeinschaften mit ihren Botschaften offenbar nicht durchdringen. Haben die Kirchen ein kommunikatives Problem?

Die katholische Kirche verzeichnete 2018 insgesamt 216.078 Austritte – ein Plus von 29 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Noch mehr Mitglieder gehen der katholischen Kirche durch den demografischen Wandel verloren. 2018 standen 243.705 Bestattungen 167.787 Taufen, 2.442 Eintritte und 6.303 Wiedereintritte gegenüber. “Jeden Austritt aus der Kirche bedauern wir”, sagt Matthias Kopp, Pressesprecher der Deutschen Bischofskonferenz (DBK). Die Menschen entfremdeten sich zunehmend von der Kirche. “Vielen Menschen sagt die Kirche nichts mehr, die Botschaft der Kirche ist manchen nicht verständlich. Das führt zur Distanzierung und dann leider auch zum Kirchenaustritt.”

Mit rund 220.000 Austritten im Jahr 2018 lagen die evangelischen Landeskirchen sogar noch leicht über der katholischen – die Zahl stieg im Vergleich zum vergangenen Jahr allerdings nur um 11,6 Prozent. Auch den Protestant:innen macht der demografische Wandel zu schaffen: Hier stehen 170.000 Taufen und 25.000 Aufnahmen 340.000 Bestattungen gegenüber. Ein düsteres Szenario zeichnet die Studie „Projektion 2060“ der Universität Freiburg aus dem Jahr 2017: Bis zum Jahr 2060, so das Ergebnis, werde sich die Zahl der evangelischen Kirchenmitglieder in Deutschland in etwa halbieren.

„Die Kirche wird perspektivisch kleiner werden – das ist uns bewusst“, kommentiert Carsten Splitt die Zahlen. Dem demografischen Wandel kann die Kirche schwerlich etwas entgegensetzen. Stattdessen will die Kirche laut Splitt mit „ansprechenden Angeboten“ auf die wachsende Entfremdung reagieren. „Man muss sich die Frage stellen, wie nah die Kirche eigentlich an den Bedürfnissen der Menschen ist“, merkte auch Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der EKD, vergangenen Herbst im pressesprecher-Interview an.

Skandale lassen das Ansehen weiter sinken

Nicht hinter jedem Kirchenaustritt stecken jedoch Demografie oder Entfremdung. Auch der tausendfache sexuelle Missbrauch von Kindern beschädigt das Image der Kirchen massiv. Im Rahmen einer Veranstaltung zum Thema auf dem Evangelischen Kirchentag 2019 in Dortmund kritisierten Betroffene unter anderem, dass die evangelische Kirche viel zu spät begonnen habe, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Die katholische Kirche stehe seit 2010 massiv unter Druck. Viele werfen ihr Behinderung und Verschleierung vor. Ursachen würden nicht beseitigt, Täter gedeckt. Gleichzeitig sei ihr jedoch schon gelungen, klare Strukturen zu schaffen. Bei der evangelischen Kirche gebe es hier noch sehr viel Improvisation.

Daneben hat insbesondere die katholische Kirche mit weiteren Skandalen zu kämpfen. So sorgte in der Vergangenheit der ausschweifende Lebensstil einiger katholischer Geistlicher für eine Welle der Empörung und Austritte. Der Limburger Prunk- und Protz-Bischof Tebartz van Elst musste beispielsweise 2014 seinen Posten aufgrund anhaltender Kritik an den explodierenden Baukosten seines herrschaftlichen Sitzes räumen. Skandale wie diese haben “die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in die Kirche erschüttert”. 

Verstärkt werden die Skandale auch durch die komplexe Krisenkommunikation der katholischen Kirche. “Wir haben 27 Bistümer in Deutschland, die quasi autark sind. Der Bischof untersteht letztlich dem Papst. Die Bischofskonferenz ist ein Zusammenschluss, kann aber keine Direktive in der Kommunikation geben, wohl aber Empfehlungen”, gibt Kopp zu bedenken. “Das ist im Unternehmen anders, wenn von der Konzernspitze die Kommunikationslinie an alle Ebenen vorgegeben wird.”

Die Botschaft des Evangeliums kommunizieren

Matthias Kopp von der DBK räumt ein: “Natürlich müssen wir uns selbstkritisch fragen, ob man uns versteht. Ist unsere Botschaft verständlich? Ich glaube ja”, sagt Kopp und betont die karitative Arbeit der Kirche. “Wenn sich da die Kirche zurückziehen würde, hätte der Sozialstaat ein erhebliches Problem.” Umso wichtiger sei es, trotz Krisen, die Botschaft der Kirche “überzeugend und glaubwürdig zu vermitteln.”

“Das ist die Botschaft des Evangeliums, das ist aber auch der starke caritative und gesellschaftliche Anspruch, den die Kirche mit ihren Einrichtungen leistet.” So agiere die katholische Kirche beispielsweise als Bildungsträger von fast 990 Schulen. “Wir haben eine Botschaft und eine Marke, und die müssen wir unermüdlich kommunizieren.” Bisher trägt diese Kommunikation gemessen an den Mitgliederzahlen keine Früchte.

Kirche im Social-Media-Zeitalter

An der Art und Weise der Kommunikation könne das nicht liegen. “Wir sind nicht hinterwäldlerisch, und ich erlebe unsere Kirche kommunikativ als ziemlich modern”, sagt Kopp. So sei die Bibel mit Bibel-Apps und Facebookauftritten im 21. Jahrhundert angekommen. Soziale Medien spielten also eine “wachsende Rolle für unsere Arbeit, für die Kommunikation und vor allem auch für die Glaubenskommunikation. Ich bin fest überzeugt: Paulus, der ja viele Briefe geschrieben hat, wäre heute bei Facebook und Instagram superaktiv.” Gleichzeitig betont Kopp, dass die katholische Kirche ihre Positionen, “die manchen traditionell und konservativ vorkommen”, nicht aufgeben werde.

Auch die evangelische Kirche will den digitalen Wandel nicht verschlafen haben – eine Social-Media-Präsenz der Kirche ist für Carsten Splitt selbstverständlich. „Wir sind natürlich auf Facebook, Twitter und Instagram aktiv und versuchen, dort Menschen zu erreichen“, so Splitt. Dass sich die Art der Kommunikation ständig wandele, sei seiner Meinung nach seit 2000 Jahren der Fall. Angesichts der immer schneller werdenden Medien sei es eine Herausforderung für die Kirche, ihrerseits schneller zu reagieren.

Das Modell „Christfluencer:in“

Gerade junge Menschen sind heutzutage immer seltener überzeugt von der Kirche: Laut der „Projektion 2060“ sind Menschen, die aus der evangelischen Kirche austreten, vorwiegend zwischen 25 und 35 Jahren alt. Der Austritt hängt häufig mit dem Eintritt ins Erwerbsleben zusammen – die Kirchensteuer lässt grüßen. Um ihre Mitglieder möglichst noch vor diesem Alter für ihre Botschaft zu begeistern und so die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, sie zu halten, lassen einige religiöse Gruppen sich bereits von der Unternehmenskommunikation inspirieren und setzen auf eigene „Corporate Influencer:innen“ – die sogenannten „Christfluencer:innen“.

Die evangelische Kirche ist hier bereits aktiv geworden. „Das ist ein Thema, das wir sehr genau verfolgen,“ sagt Carsten Splitt. Mit „Jana glaubt“ betreibe man bereits einen eigenen Youtube-Channel, auf dem die Poetryslammerin Jana Highholder regelmäßig über ihren Glauben spricht. Das Projekt wird vom Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP) und der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland (AEJ) verantwortet. 

Ziel der Initiative sei es, zu zeigen, wie aktuell die christliche Botschaft auch heute sei, heißt es auf der Webseite der Initiative. Parallel zu Youtube ist die Influencerin Jana außerdem auf Facebook und Instagram präsent. „Wir sehen ja jetzt schon, dass Kommunikation, die sehr stark auf Personen zurückgeht, die ihren Glauben im Netz darstellen, funktioniert – also etwa dort, wo Pastoren und Pfarrer selbst aktiv in den sozialen Medien sind“, begründet Carsten Splitt die positive Einstellung der EKD gegenüber dem Influencer:innen-Modell. In Kürze starte außerdem ein neues evangelisches Multichannel-Netzwerk, das christliche Influencer:innen in den sozialen Medien unterstützen solle.

Ganz anders sieht es bei der katholischen Kirche aus: “Die Deutsche Bischofskonferenz unterstützt hier nicht”, sagt Matthias Kopp zum Thema. Inwieweit einzelne der 27 Bistümer dies tun, sei ihm nicht bekannt. Beim Einsatz von „Christfluencern:innen“ befinde man sich „noch in einer Lernphase“.

Missionierung durch Fake News

Tatsächlich sollten Christfluencer:innen kritisch betrachtet werden, insbesondere dann, wenn sie von keiner der großen Kirchen unterstützt werden. Extremist:innen und Fundamentalist:innen nutzen die sozialen Medien, um ihre fragwürdigen Ansichten unter die Leute zu bringen.

Eine der erfolgreicheren „Christfluencerinnen“ ist Li Marie. Auf Instagram folgen ihr mehr als 12.100 Menschen; auf Youtube haben mehr als 13.600 ihren Kanal abonniert. Hinter dem auf dem ersten Blick harmlosen Kanal verbirgt sich Civic, eine christliche Organisation, die nach eigenen Angaben die “Kirche für jedermann. Zu jederzeit. Überall”, sein will. Laut Huffington Post handele es sich dabei um eine radikale Christ:innengruppe, die junge Youtuber rekrutiert, um eigene Inhalte zu verbreiten.

So wettern Influencer:innen wie Li Marie gegen Homosexualität, Pornos, Abtreibungen oder Sex vor der Ehe, wie Vice berichtet. Reichen Verweise aus der Bibel nicht aus, bedienen sie sich Fake News. So behauptet Michi, ein Freund von Li Marie, in einem ihrer Videos: “Pornografische Bilder speichern sich in deinem Kopf fünf Jahre.” Wer als Teenager:in Pornos schaue, werde später mit höherer Wahrscheinlichkeit pädophil. “Du musst immer extremer werden”, erklärt Michi, “und auch da ist die Frage: Wie weit will ich irgendwann in meiner Ehe so extrem werden, dass mir nicht mal der Sex mit meiner Freundin (sic) ausreicht, sondern ich vielleicht irgendwann, wie es heute immer öfter passiert, auch mit meiner Tochter schlafen muss, meinen Sohn vergewaltigen muss?”

Ein Blick in die Zukunft

Trotz solcher Negativ-Beispiele könnten Christfluencer:innen für die Kirchen zu einem wirksamen Instrument im Werben um neue Mitglieder werden. Die positiven Erfahrungen aus dem Unternehmenskontext lassen hoffen. “Es ist immer Luft nach oben”, zeigt sich Matthias Kopp optimistisch. “Die Bistümer und Pfarrgemeinden, die Verbände, vor allem die Jugendverbände, zeigen uns positiv, wie Kommunikation – nahe bei den Menschen – geht. Und wer hat schon einen Papst bei Twitter mit Millionen Followern? Auch von Franziskus kann man lernen.”

Auch Carsten Splitt von der EKD sieht der Zukunft positiv entgegen – trotz Mitgliederverlust: „Die Themen, die die Kirche anzubieten hat, und zu denen sie sich äußern kann, sind zeitlos und werden auch weiterhin – unabhängig von der Größe und den Mitgliedszahlen der Kirche, relevant sein und die Menschen beschäftigen.“

Auf beiden Seiten stemmt man sich mit allen Kräften dem drohenden Bedeutungsverlust entgegen. Sollte sich der Abwärtstrend allerdings fortsetzen und sämtliche kommunikative Maßnahmen auch künftig nicht fruchten, ist absehbar, wann die Kirchen ausgeblutet sind. Würden sie jedes Jahr wie zuletzt 660.000 Mitglieder verlieren, wäre das Christentum in Deutschland rein rechnerisch in 67 Jahren ausgestorben. Aktuell gibt es hierzulande noch 44,17 Millionen Christ:innen – das entspricht 53,2 Prozent der Gesamtbevölkerung.

 

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