Wie viel Change hält ein Mensch aus?

Management

Das Veränderungstempo im Arbeitsbereich nimmt zu. 2015 wurden allein in Deutschland 2.500 Firmen übernommen oder fusioniert. Durchschnittlich steckt jedes zweite Großunternehmen in einer sogenannten Restrukturierung. Die durchschnittliche Verweildauer von Vorständen und Top-Führungskräften sinkt: Blieb 2010 ein Geschäftsführer noch acht Jahre auf einem Chefsessel sitzen, waren es 2015 nur noch sechs Jahre. Je größer ein Unternehmen ist, desto häufiger der Wechsel. Zum Teil gibt es gar Richtlinien, nach denen eine Position nicht länger als zwei oder drei Jahre besetzt sein sollte, sagt ein Insider aus der Finanzbranche.

Management by Helicobacter

Jeder neue Chef bringt Ideen mit, die umgesetzt werden sollen. Und so kommt es zu einer neuen Managementform: statt „Management by Helicopter“ gilt fortan „Management by Helicobacter“. Diese Art und Weise der Führung hat dieselbe Wirkung wie das berüchtigte Helicobacter-Bakterium im Magen: Sie löst bei den Mitarbeitern eine chronische Entzündung aus.

Und so jagt ein Change den anderen. Mitarbeiter sollen sich permanent anpassen, weiterbilden und ihre Werte wechseln wie ein Chamäleon die Farben. Irgendwann fragen sie sich berechtigterweise: Wie komme ich noch mit? Wie lange halte ich das aus? Das zunehmende Change-Tempo ist gefährlich. Auch für jene, die sich grundsätzlich flexibel und veränderungsbereit geben.

Jeder Wechsel kostet Arbeit und Energie. Mitarbeiter müssen den Veränderungsprozess zusätzlich zum normalen Tagesgeschäft stemmen. Laut einer Studie werden 80 Prozent der befragten Führungskräfte und Mitarbeiter in Veränderungsprozessen nicht von ihrer üblichen Arbeit entlastet. Und das, obwohl sie einen Großteil ihrer Zeit für die Change-Projekte aufbringen.

Ultimativer Kontrollverlust

Die Besonderheit von Change-Prozessen ist, dass sich die Mitarbeiter nicht aus freien Stücken dazu entscheiden. Change wird verordnet, weil die Firmenleitung dafür plädiert oder andere Manager nach dem Wandel streben. Mitarbeiter erleben den ultimativen Kontrollverlust. Für viele von ihnen bedeutet das Stress und Verunsicherung: Werde ich die neuen Aufgaben bewältigen? Wie läuft die Zusammenarbeit mit den neuen Kollegen, dem neuen Chef? Was ist, wenn ich den Erwartungen nicht gerecht werde? Wie lange wird die Situation so bleiben? Was kommt als Nächstes?

Fusionen haben ihre eigene Dynamik. Sie bedeuten einen tiefen Einschnitt in die Eingeweide einer Firma. Jedem Mitarbeiter ist klar: Wenn zwei Firmen zusammengehen, sind Stellen, Funktionen und Bereiche erst einmal doppelt besetzt. Folglich werden Stellen gestrichen. Die Frage ist dann, wen es trifft. In dieser Zeit sinken Motivation und Leistungsfreude. Jeder hat Angst um seine Position.

Im allgemeinen Wachstumsstreben werden häufig die emotionalen Folgen von Fusionen übersehen. Die „Gekauften“ fühlen sich oft als Verlierer, denn „gekauft“ zu werden ist etwas sehr Persönliches. Es verletzt den Stolz der Mitarbeiter, die unter dem Eindruck leiden, dass die eigene Arbeit nicht mehr gut genug ist.

Still leidende Veränderungsopfer

Wie viele dieser Veränderungsopfer gibt es eigentlich in den Firmen? Täglich lesen wir die Zahl der Stellen, die abgebaut werden. Hunderte, Tausende. Doch was ist mit den Menschen, die bleiben? Sie machen die Mehrzahl aus. Sie leiden still vor sich hin. Sie schweigen und beißen die Zähne zusammen.

Sie glauben, funktionieren zu müssen. Sie haben Angst, Schwäche zu zeigen. Niemand will als „Querulant“, „Jammerlappen“ oder „Change-Bremse“ wahrgenommen werden. Oder schlimmer noch: Der Chef könnte auf die Idee kommen, sich von ihnen zu trennen, weil sie nicht flexibel oder belastbar genug sind.

Wozu das Ganze?

Mit jedem weiteren Change, der unsinniger erscheint als der vorherige, ziehen sich Mitarbeiter zurück. Selbst dann, wenn sie zu Beginn des Wandels noch motiviert waren.

Je häufiger der Wandel, desto weniger erschließen sich den Mitarbeitern die Gründe. Ein Mitarbeiter einer Bank drückt es so aus: „Auf den Vorgesetztenwechsel reagieren wir mittlerweile abgestumpft. Wir nehmen das zur Kenntnis und stellen uns eben wieder neu auf. Der eine kehrt mit links, der andere mit rechts. Für mich bedeutet das eigentlich nur noch, irgendwelche Vorgesetztenwünsche umzusetzen. Ich habe mir abgewöhnt, nach dem Sinn der Veränderungen zu fragen – sie sind ja ohnehin nicht von Dauer.“

Fatal wird es, wenn Mitarbeiter in die Mühlen der Personalentwicklung geraten und Dinge lernen sollen, die weder ihrem Wertesystem noch ihren Fähigkeiten entsprechen. Das Unangenehme an dieser Situation besteht oft darin, dass Mitarbeiter diese Veränderungen zu Beginn kaum bemerken, weil Chef und Personalentwicklung in vermeintlich guter Absicht auf sie zukommen.

Veränderungsbalance

Es gibt Zusammenhänge zwischen einzelnen Change-Faktoren, die zeigen, unter welchen Bedingungen Change psychisch und körperlich krank macht. Es gibt vier Quadranten, in denen sich Menschen im Change befinden könnten. Jeder verfügt über eine individuelle Grenze, an der das Veränderungstempo, das Veränderungsausmaß oder beides zusammen in einen kritischen negativen Bereich abdriften.

  • Veränderungsbalance
    In diesem Feld sind Veränderungstempo und -ausmaß auf einem angemessenen Level. Mitarbeiter können die Anpassungsanforderungen gut meistern.
  • Erschöpfung
    In dem Feld ist zwar das, was Mitarbeiter neu lernen sollen, grundsätzlich machbar und entspricht auch ihrem Potenzial, nur kommt es in der zur Verfügung stehenden Zeit zu einer Überforderung. Die Erwartungen der Vorgesetzten sind zu hoch. Aus einer zu schnellen Anpassung entsteht Stress. Mit zunehmender Dauer dieses Zustands kommt es zur Erschöpfung. Im schlimmsten Fall droht ein Zusammenbruch.
  • Nicht mein Ding!
    Hier liegt der Fokus darauf, dass Mitarbeiter eine Anpassungsleistung bringen müssen, die nicht im Bereich ihrer Stärken liegt. Sie müssen also etwas leisten, das sie im Grundsatz nicht gut beherrschen und auch nicht gern machen. Obwohl das Veränderungstempo in diesem Feld eher gemäßigt ist – und damit auch Zeit für Schulungen und Übungen vorhanden ist –, kommen die Angestellten nicht auf ein angemessenes Leistungsniveau. Weil sie trotz Anstrengung und grundsätzlicher Veränderungsbereitschaft nicht so richtig vorwärtskommen, entstehen Selbstzweifel. Die Motivation sinkt. Wenn dann die neuen Tätigkeiten nicht mit inneren Werten und Einstellungen übereinstimmen, fühlen sich die Mitarbeiter fremdbestimmt.
  • Selbstaufgabe
    Dieses Feld ist besonders kritisch, da Mitarbeiter nicht nur angesichts des Change-Tempos auf dem Zahnfleisch kriechen, sondern auch neue Werte, Einstellungen und Fertigkeiten lernen müssen, die ihnen nicht liegen oder sogar zuwider sind. Diesen Zustand kann niemand unbeschadet lange aushalten. Der innere Konflikt ist zu groß. Auch in diesem Feld sind Stresserkrankungen und Anpassungsstörungen die Folge.

Liebe Vorgesetzte, überlegen Sie doch einmal, in welchen Quadranten sich Ihre Mitarbeiter angesichts aktueller Change-Prozesse im Unternehmen befinden. Ermutigen Sie Ihre Mitarbeiter zum ehrlichen Austausch darüber und entwickeln Sie passende Lösungen. Machen Sie Ihnen Mut, offen zu sein. Denn welchen Nutzen hat es, wenn Ihre besten Leute eines Tages mit dem Hubschrauber abgeholt werden müssen – als gefallene Change-Helden?

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe DATEN. Das Heft können Sie hier bestellen.