Wenn unserer Sprache die Worte fehlen

Eigentlich war der Amerikaner Benjamin Lee Whorf studierter Chemiker. Anfang der 1920er heuerte er bei einer Versicherungsgesellschaft im neuenglischen Connecticut an. Sein ganzes Berufsleben lang prüfte er als Brandschutzinspekteur Gebäude und Produktionsstätten auf Feuerrisiken.

In seiner Freizeit widmete sich Whorf aber einem ganz anderen Thema: Er studierte die Sprachen der amerikanischen Ureinwohner. Insbesondere die Hopi-Indianer faszinierten ihn. Anders als im Englischen schienen diese keine grammatische Form für die Zukunft oder die Vergangenheit zu kennen. Whorf stellte sich die Frage, ob die Art und Weise, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen, von unserer Sprache beeinflusst wird. Und wenn ja, macht es einen Unterschied, welche Sprache wir sprechen?

In den folgenden Jahrzehnten entwickelte der Hobbylinguist zusammen mit dem renommierten Professor Edward Sapir die sogenannte Sapir-Whorf-Hypothese. Ihre Kernaussage ist einfach und radikal: Unsere Sprache diktiert unser Weltbild. Damit legten sie den Grundstein für ein neues Sprachverständnis und die Schule des Linguistischen Relativismus.

Bis heute wird die Hypothese in Fachkreisen und von Laien heiß diskutiert. Einige nutzen sie sogar um fundamentale sozioökonomische Phänomene zu erklären. Selbst die vielbeschworene deutsche Sparsamkeit soll sie begründen können, konstatierte kürzlich der Ökonom Keith Chen. Denn während die Deutschen das Präsens verwenden, um über künftige Ereignisse zu sprechen („Morgen regnet es“), trennen Briten oder Amerikaner härter zwischen Gegenwart und Zukunft („Tomorrow it will rain“). Die Folge sei, dass die deutschen Muttersprachler gezwungen werden, aktiver über die Zukunft nachzudenken. Tatsächlich fand Chen eine Korrelation zwischen solchen „zukunftslosen“ Sprachen wie Deutsch und dem Sparverhalten ihrer Sprecher. Selbst das Wort „Schulden“ ist für Deutsche emotional aufgeladener als für Englisch-Sprecher. Während wir sowohl für die moralische als auch die finanzielle Schuld nur ein Wort kennen, unterscheiden Englisch-Muttersprachler zwischen dem neutralen „debt“ und dem negativen „guilt“.

Sind Sie Ost- oder Westhänder?

Ganz so einfach lässt sich die Welt mithilfe von Sapir und Whorf aber doch nicht deuten. „Inwieweit sprachliche Strukturen unser Denken und Wahrnehmen beeinflussen, ist tatsächlich ein sehr umstrittenes Feld“, meint Markus Werning. Er ist Professor für Sprache und Kognition an der Ruhr-Universität Bochum.

Die Sapir-Whorf-Hypothese gelte in der Wissenschaft weitgehend als entkräftet. „Allerdings kann Sprache das Denken modulieren“, sagt Werning. Linguistischer Relativismus wird heute interdisziplinär diskutiert. Nicht nur Sprachwissenschaftler sondern auch Kognitions- und Neurowissenschaftler, Philosophen und Psychologen knüpfen mit ihrer Forschung an die Idee von Sapir und Whorf an.

Selbst grundsätzliche Konzepte wie unsere räumliche Wahrnehmung werden manchmal von unserer Sprache beeinflusst. Wenn wir von unserer linken oder rechten Hand sprechen, ist das dem „egozentrischen“ Weltbild unserer Sprache geschuldet. Orientierung anhand der eigenen Person ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit, sich auszudrücken. Viele indigene Sprachen geben Orientierung durch geografische Merkmale oder Himmelsrichtungen. Personen, Gegenstände und Tiere werden also im Verhältnis zu ihnen beschrieben. In der Sprache der Pormpuraaw-Aborigines ist es beispielsweise durchaus sinnvoll, von seiner westlichen und östlichen Hand zu sprechen.

Experimente mit diesen und ähnlichen Kulturen zeigen verblüffende Nebeneffekte. „Es ist ganz erstaunlich: Selbst in geschlossenen Räumen kennen diese Menschen die Richtung zu ihrem geografischen Bezugspunkt“, weiß Professor Werning. In rund einem Drittel der weltweit gesprochenen Sprachen werden solche „geozentrischen“ Begriffe verwendet. Manchmal gibt es auch Variationen innerhalb derselben Sprache, wobei sich Landbewohner eher an geografischen Begriffen orientieren, während Stadtbewohner unsere egozentrische Sprache teilen.

Konventionen übersetzen

Auch für die Kommunikation über Länder- und Sprachgrenzen hinweg haben diese unterschiedlichen Wahrnehmungen Konsequenzen. Als Übersetzerin muss Cornelia Groethuysen täglich abwägen, wie man einen Text den Sensibilitäten des Zielpublikums anpasst, ohne dabei den Kern der Botschaft zu verfälschen. „Als Leser und selbst als Übersetzer hat man natürlich andere Erwartungen an einen deutschen Text als an einen englischen“, lautet Groethuysens Erfahrung. Was zum Beispiel in einem englischen Marketingtext als normal gilt, kann in einer direkten deutschen Übersetzung schnell prahlerisch klingen.

Seit Anfang der 1980er ist Groethuysen als technische Übersetzerin für Englisch tätig. Lange hat sie als Dozentin am Sprachen und Dolmetscher-Institut München gelehrt. Sie kennt den Einfluss von Sapir-Whorf auf unser Sprachverständnis. Besonders bei nicht-europäischen Sprachen werden die verschiedenen Weltbilder offensichtlich. Im Japanischen zum Beispiel: „Man muss von Anfang an wissen: bin ich Mann oder Frau, bin ich älter oder jünger und wo stehe ich in der gesellschaftlichen Ordnung?“. Wer Japanisch spricht, muss seine Sprache ständig seiner Umgebung anpassen. „Im Vergleich zu einem englischen Muttersprachler, der nicht einmal zwischen den Anreden ‚Du‘ und ‚Sie‘ unterscheidet, ist es sicher sehr schwer, sich aus einem solchen hierarchischen Denken zu befreien“.

Bis heute hat die strikte Auslegung der Sapir-Whorf-Hypothese ihre Verfechter. Die meisten Experten sehen das Verhältnis von Sprache und Wahrnehmung aber eher als eine Art Synthese: Unsere Kultur und Lebensgewohnheiten beeinflussen, wie wir uns ausdrücken. Gleichzeitig hilft uns Sprache, die Welt zu ordnen und besser zu verstehen. Das Übersetzen von einer in die andere Sprache hat auch immer etwas mit dem Übersetzen von einer Kultur in eine andere zu tun. Wirklich unübersetzbar ist keine Sprache. Manchmal muss Groethuysen ihren Kunden sagen, dass ihr Text oder Slogan in einer anderen Sprache nicht funktioniert. Dann muss sie eine Variante finden, die auch den Konventionen der Zielsprache entspricht. „Unübersetzbar heißt nur, dass ich es nicht mit den gleichen sprachlichen Mitteln wiedergeben kann“, sagt sie über ihre Arbeit. Oft hilft schon eine geschickte Umschreibung, um dem Zielpublikum komplexe Zusammenhänge, die in der Sprache verborgen sind, verständlich zu machen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Sprache. Das Heft können Sie hier bestellen.

Weitere Artikel