Wenn der Bauch schlauer ist als der Kopf

Interview mit Gerd Gigerenzer

Herr Gigerenzer, Sie haben umfassend zum Thema Bauchgefühl ­geforscht und dazu mehrere Bücher veröffentlicht. Können Sie erklären, was Sie darunter verstehen?

Gerd Gigerenzer: Bei Intuitionen oder Bauchentscheidungen handelt es sich um gefühltes Wissen, also etwas, das auf viel Erfahrung beruht. Etwas, das dazu führt, dass wir sehr schnell spüren oder wissen, was man tun sollte. Man kann es sich jedoch selbst nicht erklären. Dennoch steuern solche Intuitionen viele von unseren professionellen und privaten Handlungen. Es ist kein sechster Sinn, keine Willkür, keine göttliche Eingebung und auch nichts, was nur Frauen haben. Sondern es handelt sich um das Wissen, das in jenen Teilen unseres Gehirns gespeichert ist, die sich nicht sprachlich ausdrücken können.

Können Sie ein Beispiel geben?

Eine Muttersprache lernt man nicht durch Regeln, man beherrscht sie intuitiv. Man spürt, wenn ein Satz falsch ist, aber man kann nicht immer erklären, was daran falsch ist. Es sei denn, man hat in der Schule bei der Grammatik aufgepasst. Ähnlich verhält es sich bei meinen Studien mit großen Unternehmen: Die Manager bis in den Vorstand hinein sagen, dass sie etwa 50 Prozent aller wichtigen professionellen Entscheidungen aus dem Bauch heraus treffen. Das heißt, nach gründlicher Analyse von allen Daten und Fakten, die ja mitunter widersprüchlich sind, ist es oft so, dass sie nicht für sich sprechen. Wenn man dann aufgrund seiner Erfahrung spürt, wo es lang gehen soll, nennt man das eine Bauchentscheidung.

Firmen entwickeln ein Bündel an Strategien. Da gibt es die Unternehmens-, Marken- und natürlich auch die Kommunikationsstrategie. Es wird von langer Hand geplant und analysiert, was das Zeug hält. Berater verdienen damit viel Geld. Dem liegt der Gedanke zu Grunde, dass wir besser handeln, wenn wir vorher gründlich nachgedacht und alle Fakten zum Thema gesammelt haben. Wissenschaft schafft Gewissheit, sozusagen. Intuition und Bauchgefühl scheinen da keinen Platz zu haben. Machen wir uns mitunter zu viele Gedanken? Sind wir zu durch­rationalisiert?

Man sieht es an den Fünf-Jahres-Plänen der ehemaligen Sowjetunion, so etwas funktioniert nicht immer. Warum nicht? Sie können Regeln machen in Situationen, in denen alles vorhersehbar ist und nichts Neues passiert. Aber wenn Sie in einer sich wandelnden Welt starre Regeln festlegen, fallen Sie damit auf die Nase. Daher ist eine gewisse Flexibilität wichtig.

Und die fehlt uns?

Ja, allzu oft. Leider hat unsere Gesellschaft zu viel Angst vor intuitiven Entscheidungen und vor Flexibilität. Man braucht natürlich eine gewisse Balance zwischen Flexibilität und Regeln, aber letztere dürfen nicht zu Fesseln werden. Dieselben Topmanager, die in meinen Untersuchungen sagen, „jede zweite Entscheidung ist eine Bauchentscheidung“, würden das öffentlich nie zugeben. Aus Angst. Stattdessen wird eine teure Beratungsfirma eingekauft, die auf einem 200-Seiten-Bericht die Bauchentscheidung begründet – ohne dass der Begriff „Bauchentscheidung“ je fällt. Das ist eine Verschwendung von Geld, Zeit und Intelligenz! Man misstraut Intuition und vertraut Berechnungen beinahe blind.

Warum?

Weil man Angst vor Verantwortung hat. Die Schizophrenie ist, dass wir in unserer Gesellschaft Intuition in einigen Bereichen misstrauen, in anderen ganz selbstverständlich vertrauen. Nehmen Sie den Sport, da zählt Begründung von Verhalten wenig. Stellen Sie sich mal Folgendes vor: Ein Fußballer, der aus einem schwierigen Winkel ein brillantes Tor schießt, muss dem Schiri anschließend erklären, wie er das gemacht hat, anderenfalls gilt das Tor nicht. Genau das ist aber die Mentalität in vielen Unternehmen! Man legt mehr Wert auf die Prozedur statt auf die Qualität des Ergebnisses.

Man hat Angst, Fehler zu machen, wenn man ­Entscheidungen nicht einwandfrei begründen kann.

Richtig. Dahinter steht eine mangelnde Fehlerkultur. Der Manager hat teilweise zu Recht Angst vor einem Karrierenachteil oder davor, gefeuert zu werden. Es hängt auch zusammen mit einer immer weiter fortschreitenden Verrechtlichung und Überregulierung in unserem Land. Nehmen Sie die Situation vor der Finanzkrise 2007/08. In den großen Finanzhäusern gab es durchaus Führungskräfte, die sich darüber klar waren: Das geht nicht lange so weiter. Aber die, die etwas gegen die gängige Praxis gesagt und gewarnt haben, wurden oft gefeuert. Die Banken haben hier kurzfristig geplant und die Existenz des gesamten Unternehmens gefährdet.

Sehen Sie hier nach der Finanzkrise Veränderungen?

Kaum.

Was würden Sie Firmen und Managern mit auf den Weg geben – auf Basis Ihrer Erkenntnisse?

Ein Kernproblem ist die defensive Kultur in Unternehmen, genauer das defensive Entscheiden von Führungspersonen. Das sollte ­angegangen werden.

Was heißt defensives Entscheiden?

Ich erkläre es an einem Beispiel: Ein Manager spürt aufgrund seiner Erfahrung, dass man ein bestimmtes Risiko nicht eingehen sollte. Er handelt aber nicht danach, weil er nicht dumm dastehen will, wenn es anders ausgehen sollte. Defensives Entscheiden heißt, man handelt entgegen der eigenen Überzeugung, schützt sich selbst, schadet aber letztendlich dem  Unternehmen und setzt möglicherweise dessen Existenz aufs Spiel. Es sei denn, man ist eine Bank und der Steuerzahler rettet einen… (lacht)

Der US-Psychologe Timothy Wilson führte Anfang der 1990er Jahre ein Experiment mit Studenten durch: Sie sollten sich aus fünf Kunstpostern eins ­aussuchen. Die eine Hälfte der Gruppe sollte ihre ­Entscheidung schriftlich begründen, die andere spontan ­entscheiden. Als der Studienleiter die Studenten zum Semester­ende anrief, um zu fragen, ob ihnen das  Poster noch gefiele, war er überrascht: Die Teilnehmer, die ihre ­Posterauswahl gründlich überlegt hatten, waren jetzt weniger zufrieden als die Spontanentscheider. Ist der Verstand dümmer als wir dachten?

Nein. Aber es gibt eine ganze Industrie, die uns weismachen will, dass wir alle ziemlich inkompetent sind im Umgang mit Entscheidungen und Risiken, um nicht zu sagen dumm. Ich möchte dazu beitragen, dass Menschen Risiken verstehen und selbst entscheiden können.

Wie bereits angesprochen, haben Sie selbst eine Studie durchgeführt, um zu erfahren, inwieweit man sich in der Wirtschaft auf Bauchentscheidungen verlässt. Dazu haben Sie Führungskräfte und Vorstände großer Unternehmen befragt. Alle Befragten sagten, dass sie schon einmal eine Bauchentscheidung getroffen ­haben. Die Mehrheit sagte sogar, dass sie ungefähr 50 Prozent ihrer Entscheidungen aus dem Bauch ­heraus trefft. Warum wird die Intuition dennoch oft ­belächelt?

Das ist eine gute Frage. Ein Grund ist: Intuition wird immer noch mit Weiblichkeit assoziiert.

Das wäre meine nächste Frage…

Wir haben in Deutschland eine Tradition von Paternalismus. Wir stellen traditionell den Mann über die Frau und Ratio über Intuition. Vor 100 Jahren konnten sie das noch in den Psychologie-Lehrbüchern lesen: Der Mann denkt, die Frau ist intuitiv. Der zweite Grund: Die aktuelle Forschung verknüpft zwar nicht mehr Intuition mit Frauen, aber das Herabsehen auf Intuition ist noch geblieben.

Warum spricht man von „weiblicher Intuition“, aber nie von männlicher?

Damit will man, vielleicht auch unbewusst, die Frau abwerten. Der Mann gilt traditionell als das rationelle Wesen im Vergleich zu intuitiven Frau. Das ist natürlich völliger Quatsch. Wissenschaft kann man nicht ohne gute Intuitionen betreiben. Einstein sagt einmal: „Der intuitive Geist ist ein Geschenk, der rationale Geist ein treuer Diener. Wir haben eine Gesellschaft erschaffen, die den Diener ehrt und das Geschenk vergessen hat.“ Das gilt auch heute noch.

Was sind Ihrer Meinung nach die größten ­Missverständnisse in Bezug auf Intuition?

Erstens: Intuition ist Willkür. Zweitens: Intuition ist weiblich. ­Drittens: Intuition ist immer schlechter als logisches Denken.

Wie kann man in Zeiten von Big Data, in denen ­Computer unser Handeln berechnen können, ­Entscheidungen mit Bauchgefühlen begründen?

Big Data ist manchmal Big Dummheit und nur begrenzt erfolgreich. Es ist keine künstliche Intelligenz, sondern die blinde Suche nach Korrelationen. Das funktioniert, solange Sie eine stabile Welt haben und nichts Unvorhergesehenes passiert, solange Sie Kunden haben, die immer das Gleiche kaufen. Ich bekomme auch Bücher von Amazon empfohlen, es sind immer die gleichen, nämlich die, die ich selbst geschrieben habe. Ein Beispiel: „Google Flu Trends“ wird oft als großer Erfolg von Big Data dargestellt. Zur Erklärung: Man hat die Verbreitung von Influenza-ähnlichen Krankheiten aufgrund der Google-Anfragen zu diesem Thema vorausgesagt. Das ging gut – bis 2009. Danach lagen die Schätzungen teilweise bis zu 50 Prozent daneben. Warum? 2009 hatten wir die Schweinegrippe und plötzlich stellten Leute Suchanfragen zu Influenzaerkrankungen, die gar nicht selbst betroffen waren, sondern sich nur informieren wollten. Da kam der Algorithmus nicht mehr mit. 

Hätten Sie einen Tipp, wie man gute Entscheidung trifft?

Ich formuliere Ihre Frage mal um: „Was soll ich tun, wenn ich meine innere Stimme nicht mehr höre?“ Angenommen, Sie haben es mit einem Problem zu tun, mit dem Sie reichlich Erfahrungen haben. Dann werfen Sie eine Münze. Während sie sich in der Luft dreht, werden Sie merken, dass Sie sich ein bestimmtes Ergebnis wünschen. Sie haben Ihre Entscheidung also bereits getroffen und müssen dann gar nicht mehr auf die Münze schauen.

Umfrage

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pressesprecher hat bei Kommunikatioren nachgefragt:

 

Verena Köttker (c) A. Akthar
Verena Köttker, Leiterin Unternehmenskommunikation bei Alba

“Bei Personalentscheidungen verlasse ich mich am Ende immer auf meine Intuition. Natürlich schaue ich mir zuerst die Unterlagen eines Bewerbers an, passt sein Profil, verfügt er über die nötigen ­Kompetenzen? Stimmt das alles, da ist aber trotzdem ein ungutes Bauch­gefühl – dann entscheide ich mich inzwischen konsequent gegen den Kandidaten. Das hat nichts mit unsachlicher Gefühlsduselei zu tun. Heute weiß man:Das Unterbewusstsein kann mit seinem Erfahrungsgedächtnis viel komplexere Entscheidungen treffen als der Verstand allein. Das Bauchgefühl ersetzt daher nicht den Verstand – es ist quasi der Gegencheck, ob eine zuvor getroffene rationale Entscheidung richtig ist. Waren Kopf und Bauch sich einig, passte bisher auch immer die Entscheidung zu 100 Prozent!”

Herbert Arthen, Pressesprecher bei dm Drogergiemarkt (c) Arthen Kommunikation GmbH
Herbert Arthen, Pressesprecher bei dm Drogergiemarkt

“Die Aufgabe des Pressesprechers erfordert ständige situative Geistesgegenwart, weil viele Fragen unverzüglich zu bearbeiten sind. Viele Antworten lassen sich nicht von langer Hand planen, sondern basieren auf erworbenem Wissen beziehungsweise auf Erfahrungen aus den zurückliegenden Jahren. Gerd Gigerenzer hat in seinem Buch „Bauchentscheidungen“ gut nachvollziehbar beschrieben, warum sogenannte Bauchentscheidungen zu ­besseren Ergebnissen führen können als Entscheidungen, die erst durch langes Nachdenken zustande kommen.”

Ritva Westendorf-Lahouse, Leiterin der Unternehmenskommunikation bei ExxonMobil © ExxonMobil

Ritva Westendorf-Lahouse, Leiterin Unternehmenskommunikation bei ExxonMobil

“Als wir von der Verleihung des Negativpreises „Dinosaurier des Jahres 2014“ erfuhren, war uns schnell klar, dass wir darauf nicht eingeschnappt reagieren wollen. Die Idee, den Dino als neuen Mitarbeiter aufzunehmen, kam uns allerdings ganz spontan, als wir die Skulptur in Händen hielten. Dieser Dino war einfach niedlich. Und so dachten wir nicht lange nach, sondern ließen im Netz über den Namen abstimmen und richteten ihm einen Twitter-Account ein. Seit ein paar Monaten nun begleitet uns unser „Frexxi“ bei allem, was wir tun und berichtet davon. Aus der Bauchentscheidung wurde so eine Herzensangelegenheit. Unseren kleinen Dino geben wir jedenfalls nicht mehr her.”

 

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