Wege aus der digitalen Erschöpfung

New Work

Adam Khan war beim Kosmetikgiganten L’Oréal für digitale Transformation zuständig. Er hat ein Buch über Twitterstrategien veröffentlicht, investiert in Start-ups, berät Unternehmen von Google, Twitter und Uber bis Tesla, SpaceX und Apple. Der New Yorker ist also sehr beschäftigt, muss mit sehr vielen verschiedenen Menschen und Institutionen Kontakt halten. Und er ist Kommunikationsexperte, arbeitete früher bei der bekannten Werbeagentur AKQA. Konsequenterweise veröffentlichte Khan auf Twitter eine kleine Liste der bevorzugten Arten, mit ihm in Kontakt zu treten:

1. Textnachricht (also SMS oder Chat)
2. Twitter-Direktnachricht
3. E-Mail
4. Telefon
5. Klettern Sie durch mein Fenster

Daran sind zwei Dinge interessant. Erstens: Der Punkt „Kommen Sie in meinem Büro vorbei und sprechen Sie mich an“ steht gar nicht auf der Liste. Zweitens: Telefonieren liegt abgeschlagen auf Platz vier, hinter drei anderen, neueren Kommunikationsformen. Bevor Sie sich über so viel neumodische Technikbegeisterung ärgern, schauen Sie genau hin. Den ersten drei Punkten ist nicht nur gemeinsam, dass sie für Technologien stehen, die nach dem Telefon erfunden wurden. Viel wichtiger ist, dass sie alle sogenannte asynchrone Kommunikationsformen darstellen. Also eine Möglichkeit, sich mit einem anderen Menschen zeitnah auszutauschen, aber eben nicht in Echtzeit.

Telefonieren oder den anderen persönlich treffen hingegen sind synchrone Kommunikationsformen, sie finden gleichzeitig statt, nicht zeitversetzt. Warum ist das wichtig? Weil synchrone Kommunikation per Definition unterbrechend ist. Wenn mein Telefon klingelt, muss ich aufhören zu tun, was ich gerade tue, und mit dem anderen sprechen. Wenn jemand in mein Büro kommt und etwas mit mir besprechen möchte oder mich zu einem Meeting ­bittet, ebenso.

Asynchrone Kommunikation

Nun besteht der Arbeitstag des modernen Wissensarbeiters aber sowieso schon aus zu vielen Unterbrechungen. Im Schnitt können wir uns nur acht Minuten auf eine Aufgabe konzentrieren, bevor ein Kollege, ein Anruf oder ein Meeting uns herausreißen. Psychologen sagen aber, dass acht Minuten zu kurz sind, um konzentriert, produktiv oder gar kreativ zu arbeiten. Der berühmte Flow, also jener Zustand, in dem ich sehr konzentriert eine Tätigkeit ausübe, die schwierig ist, die ich aber beherrsche – übrigens eine der wenigen nachgewiesenen menschlichen Glücksquellen –, kann so gar nicht erst entstehen. Immer mehr Menschen finden darum asynchrone Kommunikationsformen besser, zumindest bei der Arbeit. Es ist wiederum ein Trend, der bei Programmie­rern begonnen hat, die lange Zeit am Stück konzentriert arbeiten müssen. Sie lehnen Telefonieren zunehmend als altmodisch ab und möchten stattdessen so angesprochen werden, dass sie auch etwas später antworten können – also zum Beispiel per E-Mail oder Chat.

Listen wie jene von Khan sind also mehr als eine eitle Spielerei. Sie sind notwendige Voraussetzung gelingender Kommunikation im digitalen Zeitalter. Zu Ende gedacht, ist das Kaskadieren verschiedener Kommunikationskanäle je nach Dringlichkeit der Anfrage völlig plausibel. Bei mir sähe das so aus – und ich sage das meinen Kollegen auch: Nicht zeitkritische Anfragen, die bis zu einem Tag warten können, bitte per E-Mail. Dringende Themen, die eine Antwort innerhalb von maximal einer Stunde benötigen, bitte per SMS, Whatsapp, Facebook Messenger oder Twitter-Direktnachricht – je nachdem, welchen Kanal die Person bevorzugt. Ich nutze alle vier. Nur wenn es wirklich brennt oder das Thema ein persönliches, politisches oder kritisches ist, sollte man mich anrufen. Und dann bitte mobil.

Ständige Unterbrechungen

Natürlich ist das ein frommer Wunsch. Die Realität sieht auch bei mir anders aus. Bin ich im Büro, schaut alle paar Minuten ein Kollege durch die Tür, hat eine Frage oder Bitte. Und natürlich rufen mich bestimmte Menschen zu jedem Thema an – egal ob es zeitkritisch ist, und ohne zu fragen, wobei sie mich vielleicht gerade stören. Das Ganze ist durchaus eine Grundsatzdiskussion mit zwei verschiedenen Lagern. Gerade von Führungskräften höre ich oft ein Argument, das meinem Standpunkt genau entgegengesetzt ist: Statt viele E-Mails zu schreiben, solle man doch einfach mal zum Telefonhörer greifen. Probleme, die durch endloses digitales Hin und Her nur komplizierter werden – so dieser Standpunkt –, lassen sich durch ein persönliches Treffen meist aus der Welt schaffen.

Da ist etwas dran. Nur – an dem oben Gesagten eben auch. Noch mal: Die vermeintlich schnellere und klarere Echtzeitkommunikation ist immer unterbrechend, wird immer eine Seite aus der Arbeit herausreißen, weil die andere Seite mal flott etwas klären möchte. Und das macht Echtzeitkommunikation entweder egoistisch, weil ein Kollege zu wenig Respekt vor der Zeit der anderen hat. Oder, und das ist noch häufiger: zu einer Machtfrage. Denn die Chefin wird immer ein Interesse daran haben, dass andere sich mit einem Thema genau dann beschäftigen, wenn sie es geklärt haben will. Egal ob es den anderen gerade passt. Und natürlich wird sie daraus den Eindruck ableiten, dass diese Art der Kommunikation doch irrsinnig effizient ist. Weil es für sie effizient ist. Die organisatorischen und emotionalen Kosten, die sie damit den anderen aufbürdet, sieht sie nicht.

Und dann sind da ja noch jene Vorlieben, die im modernen Arbeitsalltag mindes­tens aus der Mode gekommen, wenn nicht sogar tabu sind. Allein sein, mal nicht kollaborieren, Stille wirken lassen … das klingt ja schon nach New-Age-Metaphorik, nach Räucherstäbchen und Batiktüchern. Wer in einem Start-up oder einem Großkonzern sagt: Ich würde gern eine Stunde am Tag komplett ungestört sein und nur nachdenken, wer sich einen Terminblocker „Spazierengehen“ einträgt oder wer schlicht im modernen Büro auf eine Tür besteht, die er hinter sich schließen kann, erntet mindestens skeptische Blicke. Ein Teamplayer ist so jemand sicher nicht, vermutlich sogar etwas wunderlich.

Und trotzdem müssen wir genau ­diese scheinbar altmodischen Tugenden nicht nur reaktivieren und für uns individuell wieder trainieren. Wir müssen zudem unser Bedürfnis, sie zu praktizieren, offensiv verteidigen – und wir müssen auf unternehmensorganisatorischer Ebene eine Sprache entwickeln, die es erlaubt, über diese Themen zu reden. Sowie Strukturen, Abläufe und Werkzeuge einführen, die das dann auch operationalisieren.

Ein Beispiel sind die „Manager Schedules“ und die „Maker Schedules“. Weil wir in unserem Arbeitsalltag inzwischen alle einen Kalender wie ein Manager haben – lauter kurze Zeiteinheiten, Meetings, Telkos –, fehlen uns Zeiten ungestörter Konzentration: Blöcke von halben oder ganzen Tagen, die frei von Unter­­br­echungen sind und an denen wir uns auf unsere Arbeit konzentrieren können.

Diese Erkenntnis gilt es in Unternehmen und Teams zu diskutieren. Und dann konkrete Änderungen einzuführen: Mitarbeitern erlauben, längere Zeiteinheiten im Kalender zu blocken. Weniger Meetings legen, diese dann auf wenige Tage in der Woche beschränken. Mehr asynchron kommunizieren.

Die britische Wirtschaftszeitschrift The Economist weist auf die Langzeitkosten einer Arbeitsweise der permanenten Ablenkung hin. In Unternehmen gibt es eine Schnittmenge von lediglich 50 Prozent zwischen jenen Mitarbeitern, die am meisten kollaborieren, und den Top-Performern unter den Leistungsträgern. Anders gesagt: Etwa 20 Prozent der Stars in einem Unternehmen arbeiten lieber in Ruhe für sich. „Organisationen müssen lernen anzuerkennen, dass die Menge an Zeit, die Mitarbeitern zur Verfügung steht, endlich ist“, so der Economist: „Jede Anfrage, an einem Meeting teilzunehmen oder sich an einer Onlinediskussion zu beteiligen, lässt dem Einzelnen weniger Zeit für fokussiertes Arbeiten.“

Wir verlernen, uns zu konzentrieren

Viele kleine Anfragen nach der Zeit eines Mitarbeiters („Kannst du mal schnell hier draufschauen?“, „Kommst du auch kurz dazu?“, „­Poste doch auch mal was in der Gruppe, dauert ja nur fünf Minuten“) summieren sich am Ende zu einer großen und ständigen Ablenkung. „Den Menschen zu helfen, mehr zu kollaborieren, ist großartig“, so der Economist mit trockenem britischem Humor: „Ihnen Zeit zum Denken zu geben, ist noch besser.“ Wie das praktisch aussehen kann, ­beschreibt die Harvard Business Review, die verschiedene Studien und Best Practices zu ­diesem Thema ausgewertet hat:

1. Verhaltensänderungen befördern
Zeigen Sie jenen Kollegen, die am aktivsten kollaborieren und dabei am stärksten überfordert sind, wie sie Anfragen filtern und priorisieren können. Geben Sie ihnen die Erlaubnis, Nein zu sagen oder nur die Hälfte der angefragten Zeit zur Verfügung zu stellen (Meetings per Grundeinstellung nicht auf eine Stunde, sondern auf 30 Minuten anzulegen, hat mir übrigens sehr geholfen, meinen Kalender zu leeren). Ermutigen Sie sie, die Anfrage an jemand anderen weiterzuleiten, wenn sie nicht die Einzigen sind, die hier unterstützen können. Führen Sie Kommunikationssoftware ein, die einen Pause- oder Ruhemodus anbietet. Erlauben Sie ausdrücklich, diesen auch zu nutzen, um Kollegen zu signalisieren, wann man ungestört sein will.

2. Zeitfresser eliminieren
Auch die andere Seite muss mitspielen. Also diejenigen, die um Unterstützung bitten oder spontane Kollaboration einfordern. So ist es immer sinnvoll, die Regeln grundsätzlich neu zu definieren, wann und wie Anfragen per E-Mail gesendet werden dürfen sowie wann und wie Meetings einberufen werden können. Das amerikanische Technologieunternehmen Dropbox beispielsweise stoppte zwei Wochen lang alle regelmäßigen Meetings (die berüchtigten Jours Fixes, die unsere Kalender zumüllen). Während dieser Zeit mussten die Mitarbeiter bewerten, ob das Meeting überhaupt nötig war, ob es ihnen fehlte. Nach der Zwangspause wurden sehr viel weniger regelmäßige Treffen als zuvor reaktiviert, und es wurde festgelegt, dass jedes Meeting eine Agenda haben muss und einen „Owner“, also eine verantwortliche Person, um ziellose Diskussionen zu vermeiden. Das Ergebnis laut einer Untersuchung der Uni Stanford: Obwohl Dropbox in den folgenden zwei Jahren seine Mitarbeiterzahl verdreifachte, blieben die Meetings ­kürzer und produktiver.

3. Besser delegieren
Viele Vorgesetzte leiden darunter, dass sie ständig etwas anschauen, bewerten, freigeben müssen. Hier kann man Mitarbeiter ermutigen, selbstbewusster zu sein, bestimmte Entscheidungen einfach mal selbst zu fällen, anstatt ständig den Chef oder Kollegen um Rat zu fragen und sich doppelt oder dreifach abzusichern. Dabei können digitale Diskussionstools übrigens durchaus helfen. Indem permanent über relevante Themen gesprochen wird, ist sichergestellt, dass jeder betroffene Stakeholder, aber auch der Vorgesetzte, zumindest grob informiert ist, wohin die Reise geht. Anstatt wochenlang Entscheidungsvorlagen zusammenzustellen, die beim nächsten Chefmeeting dann eh wieder von der Agenda rutschen, haben Mitarbeiter so eine hohe Sicherheit, das Richtige zu tun. Sie werden dadurch entscheidungsfreudiger. Und der Chef kann hinterher nicht sagen, er hätte von nichts gewusst.

4. Freiräume schaffen
Ein anderer Weg zum besseren Delegieren ist es, gerade Mitarbeitern der unteren Hierarchielevel mehr Entscheidungshoheit zu geben: Büro-Assistenten oder Support-Mitarbeiter sollten bis zu einer bestimmten Summe über Budgets entscheiden dürfen. Am Ende wissen sie eh besser, was der Kaffee kosten darf oder ob der Reinigungsdienst zu teuer ist. Dasselbe gilt zum Beispiel für Spesen, Reisen, kleinere Anschaffungen fürs Büro. All diese Themen gab es natürlich auch früher schon in Unternehmen. Aber mit der modernen Kommunikationstechnologie entwickeln sie häufig ein spektakuläres Eigenleben. Wenn Sie wüssten, bei wie vielen E-Mails und Meetings ich zur Planung unserer letzten Weihnachtsfeier dabei war … Dabei wollte ich nur ein Budget vorgeben und mich raushalten.

5. Kollaborations-Puffer einführen
Viele amerikanische Krankenhäuser haben neuerdings pro Abteilung eine Person, die für keinen Patienten zuständig ist, sondern nur auf spontane Entwicklungen reagieren kann. Das entlastet den Rest des Teams, und sie können sich auf ihre eigentliche Arbeit konzentrieren. Dasselbe Prinzip kann in Unternehmen funktionieren: Ein Teammitglied wird explizit dafür abgestellt, spontane Anfragen aufzunehmen und zu bearbeiten, die zusätzlich zum Tagesgeschäft reinkommen. So können sich viel beschäftigte Kollegen auf ihre Arbeit konzentrieren, statt ständig zusätzlich neue Bälle auffangen zu müssen.

6. Räumliche Nähe
Eine Studie der Boston University belegt, wie katastrophal Teammeetings und E-Mails für eine produktive Zusammenarbeitskultur sein können. Stattdessen empfehlen die Forscher, Kollegen, die operativ viel miteinander zu tun haben, auch räumlich zusammenzusetzen. So können kleine Themen schnell und spontan abgestimmt werden, anstatt ständig Meetings einzuberufen oder lange E-Mails an alle zu schreiben.

Dieser Rat widerspricht auf den ersten Blick jenem, mehr asynchrone Kommunikation einzuführen und mehr ungestörte Zeit. Tatsächlich sind die beiden Themen aber zwei Seiten derselben Medaille: Im Manager-Modus bin ich offen für kurze, schnelle Absprachen, gern auch persönlich. Hier will ich kollaborieren, und das geht oft immer noch besser von Angesicht zu Angesicht. Hier mag ich es, wenn die Kollegen im selben Raum sind, ich schnell eine Frage quer über den Tisch stellen kann und andersherum.

Im Maker-Modus hingegen will ich eben nicht gestört werden – hier braucht es asynchrone Kommunikation (Mails, Sprachnachrichten, Chats, die ich auch später beantworten kann). Wichtig: Die Modi müssen im Team gleichgeschaltet sein. Ist der eine im Maker-Modus, der andere aber im Manager-Modus, geht das natürlich schrecklich schief.

Genau dies geschieht jeden Tag in deutschen Büros. Und das Problem wird immer ­größer, weil es keine offene Diskussion über seine Ursachen und die – eigentlich einfachen – ­Lösungen gibt.

Buchautor Markus Albers beschäftigte sich in „Morgen komm ich später rein“ und „Meconomy“ mit der Zukunft der Arbeit. In seiner jüngsten Publikation, „Digitale Erschöpfung“, wirft er einen Blick auf diese Entwicklung. Der vorliegende Text ist ein leicht bearbeiteter Auszug daraus. (c) Hanser Verlag

Buchautor Markus Albers beschäftigte sich in „Morgen komm ich später rein“ und „Meconomy“ mit der Zukunft der Arbeit. In seiner jüngsten Publikation, „Digitale Erschöpfung“, wirft er einen Blick auf diese Entwicklung. Der vorliegende Text ist ein leicht bearbeiteter Auszug daraus.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe VORBILDER. Das Heft können Sie hier bestellen.

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