Was Günter Wallraff motiviert

Verdeckt und unbeirrbar

Günter Wallraff ist vieles: investigativer Reporter, Journalistenlegende oder das soziale Gewissen Deutschlands. Er selbst sagt über sich, dass er „ein Getriebener“ sei, der Veränderungen anstoßen will. Das mache ihn glücklich. Kritiker halten ihn dagegen für einen Reporter, der auch mal Grenzen überschreitet.

Jeden Tag wenden sich Menschen mit Hilfeersuchen an ihn oder seinen Verein „Work Watch“ – entweder über Briefe und E-Mails oder es stehen Leute vor seiner Tür. „Es sind oft Menschen, die es aufgrund der Angst um ihren Arbeitsplatz nicht wagen, die Missstände in ihrem Unternehmen offen anzusprechen. Die sind teils sehr verzweifelt“, sagt der Reporter. Er hilft, diese zunächst unsichtbaren Missstände an die Öffentlichkeit zu bringen. 

Seit 2013 deckt er sie mithilfe des „Teams Wallraff“ auf, einer auf RTL ausgestrahlten Undercover-Sendung. Für die Sendung schickt er Reporter als Mitarbeiter in Wirtschaftsbetriebe wie Fluggesellschaften, Paketzuliefererdienste oder psychiatrische Einrichtungen. Die Mitarbeiter filmen ihre Erfahrungen mit versteckter Kamera. Wallraff selbst war zuletzt vor einem Jahr im Einsatz – als Patient in einer Psychiatrie. Weil ihn andere Patienten erkannten, musste er abbrechen. 

Als Reporter „Hans Esser“ enttarnte Günter Wallraff 1977 bei „Bild“ die Recherchemethoden des Boulevardjournalismus. Noch mehr Aufmerksamkeit brachte ihm sein Bericht über das Leben von ausländischen Gastarbeitern in Deutschland ein. Für sein Bestseller-Buch „Ganz unten“ schlüpfte er in die Rolle des Gastarbeiters „Ali“, unter dessen Pseudonym er auf Baustellen, bei McDonald’s und bei Thyssen schuftete. Er zeigte, wie menschenverachtend die Arbeitsverhältnisse waren und was es heißt, in Deutschland Ausländer zu sein – Ähnliches versuchte Wallraff noch einmal 2009, als er als Somalier Kwami Ogonno durch Deutschland tourte. 

Konzerne zur Verantwortung ziehen 

Es ist immer ein medialer Diskurs, den Wallraffs Enthüllungen auslösen. Im besten Falle sind es Veränderungen, die er mit seinen Reportagen bei den jeweiligen Unternehmen lostritt. Bei Thyssen zum Beispiel wurden nach seinen Enthüllungen als Arbeiter Ali Sicherheitsingenieure eingestellt. Es wurden Staubmasken verteilt sowie 16-Stunden-Schichten abgeschafft. Sein Ziel: Konzerne dafür verantwortlich zu machen, was auf ihrem Firmengelände stattfindet – und wenn es die Arbeit von Subunternehmern betrifft.

„Das Gleiche wie bei Thyssen geschieht gerade bei den Paketzulieferern“, sagt Wallraff. Bei einer von mehreren Reportagen über Paketdienstleister schleppte er mit Ende 60 noch schwere Pakete. Bei 14-Stunden-Einsätzen erlebte er Schlafdefizite, Dumpinglöhne und die Missachtung von Arbeitsgesetzen. 

Seine Veröffentlichungen dürften ein Grund dafür sein, dass im September dieses Jahres das Bundeskabinett beschloss, die sogenannte Nachunternehmerhaftung auf die Paketbranche auszuweiten. Paketdienstleister, die Subunternehmer beschäftigen, haften künftig nicht mehr nur dafür, dass diese den Mindestlohn zahlen, sondern auch dafür, dass diese Sozialversicherungsbeiträge korrekt abführen.

Stoische Unternehmen

Das „Team Wallraff“ schleuste 2019 bei Ryanair eine Kollegin ein, die das Ausbildungsprogramm für das Bordpersonal der Billig-Airline durchlief. Das Fazit der Reportage: Gerade anderthalb Tage seien die angehenden Flugbegleiter für Sicherheitsvorkehrungen für den Ernstfall geschult worden. Sie fühlten sich für einen Ernstfall schlecht vorbereitet. Demgegenüber hätten sie mit fast einer Woche deutlich mehr Zeit das Training von Bordverkäufen eingeräumt bekommen. Wenn ein Flugbegleiter keine 50 Euro pro Flug einnehme, müsse er sich erklären. Zudem würden die Arbeitsverträge null Tage Kündigungsfrist und 18 Urlaubstage enthalten. Gesetzlich sind 24 Tage vorgeschrieben. 

Nach Veröffentlichung der Reportage habe es zwar Stornierungen von Flügen gegeben, so Wallraff. Eine Änderung in den Arbeitsverhältnissen sei jedoch nicht eingetreten: „Die Verantwortlichen von Ryanair reagierten überhaupt nicht.“

Wie er denn davon erfahre, dass Veränderungen stattfinden? „Bei Thyssen durfte ich mit Einverständnis des Arbeitsdirektors ein- und ausgehen. Ich erfuhr aus Gesprächen mit Kollegen vor Ort, was sich geändert hatte.“ 

Wallraff beobachtet nach Veröffentlichung seiner Recherchen immer die Entwicklungen des Unternehmens oder der Einrichtung. Dabei seien es oftmals deren Mitarbeiter, die ihm Briefe oder E-Mails über Veränderungen oder gleichbleibende Verhältnisse schreiben. Für Wallraff ein oft langwieriger und mühsamer Prozess. Die Unternehmen oder Pressestellen würden sich meist sperren.

Pressestellen blockieren

Wallraff hat den Eindruck, dass Pressestellen in deutschen Unternehmen Abschirmungsstellen seien, die Öffentlichkeit und Transparenz verhindern sollen. 

Das tadellose Image des Unternehmens sei obers-

tes Ziel auf der Aufgabenliste eines Pressesprechers, so Wallraff. Dabei wären Unternehmen glaubwürdiger, wenn sie Probleme offenlegen und damit gelassen und selbstkritisch umgehen würden.

Viele Unternehmen drohen mit Prozessen. Das erfahre auch regelmäßig das „Team Wallraff“: „Das Team wird längst nicht immer verklagt, wenn es irgendwo Missstände aufdeckt, aber immer wieder“, sagt der Reporter. RTL halte dem Team finanziell und rechtlich den Rücken frei.

Neben seiner Arbeit als Reporter bietet er Firmen an, zwischen ihnen und den jeweiligen Mitarbeitern zu vermitteln. Wallraff wolle helfen, Probleme zu lösen, ohne dass es ein Gericht braucht. Er orientiere sich an skandinavischen Unternehmen. Diese seien in ihrem Verständnis über Offenheit und Transparenz weiter als die deutschen. „Als ich hier noch von Konzernen wegen meiner Recherchemethoden vor Gericht gezerrt worden bin, hat man in Schweden bereits Journalisten eingeladen, offiziell in Unternehmen zu arbeiten.“ 

Themen erspüren

Der Reporter ist dafür bekannt, dass er immer viel für seine Sicht der Wahrheit riskiert. 1974 ließ er sich von der Sicherheitspolizei der griechischen Militärdiktatur verhaften, wurde gefoltert und veröffentlichte nach Freikommen die dabei praktizierten Methoden. Egal was er erlebte, ans Aufhören dachte er nie. 

Woher rührt sein Drang, quasi mit Leib und Seele den Dingen auf den Grund zu gehen? Als Sohn eines Arbeiters der Ford-Werke in Köln fühlte sich der gebürtige Burscheider schon immer benachteiligten Menschen zugehörig. „Meine Tätigkeit würde ich als Bedürfnis beschreiben, denen nahe zu sein, die weniger Rechte haben, drangsaliert werden oder manchmal sogar entrechtet sind.“

Weil sein Vater früh gestorben war, musste Wallraff schon als Schüler zum Unterhalt der Familie beitragen. Er trug Zeitungen aus. Mit rein theoretisch vermitteltem Wissen tat er sich schwer: „Außer in Fächern wie Kunst, Sport und Deutsch war ich ein verdammt schlechter Schüler. Ich musste mir ein Thema immer schon erspüren und selbst erarbeiten“, erinnert er sich. Früher sei das ein Manko gewesen, bei seiner Arbeit setze er aber genau dies als Handwerkszeug ein.

Das war erstmals der Fall, als er sich als gelernter Buchhändler Anfang der Sechzigerjahre weigerte, bei der Bundeswehr eine Waffe in der Hand zu halten. Er landete in der Psychiatrie des Bundeswehrlazaretts. Seine Erlebnisse schrieb er in einem Tagebuch auf, das er in Teilauszügen veröffentlichte. 

Dass er anfing, sein Aussehen für die Recherchen zu verändern, war kein Selbstzweck. „Das war mein Notwehrrecht, mein Aussehen zu verändern und andere Arbeitspapiere zu besorgen.“ Wallraff wurde so bekannt, dass Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre Unternehmen einen Steckbrief von ihm in den Schubladen verschiedener Personalverantwortlicher liegen hatten. „Die Recherchemethoden waren damals noch nicht anerkannt und Konzerne zogen mich immer wieder vors Gericht“, sagt Wallraff heute. 

Wegbereiter für Undercover-Reportagen

In Deutschland damals wenig anerkannt, gaben die Schweden Wallraffs Methode sogar ein Verb, „wallraffa“. Seine jahrelangen Prozesse mit der „Bild“ führten zudem zu einem Grundsatzurteil („Lex Wallraff“) für investigative Journalisten, undercover Missstände aufdecken zu dürfen, die für die Öffentlichkeit relevant sein könnten.  

Er selbst bezeichnet sich ungern als Journalist, sondern sieht sich eher als Reporter im klassischen Sinn. Grenzen seiner investigativen Methode zieht er übrigens da, wo der Privatbereich seines Gegenübers anfängt. Private Informationen über einflussreiche Personen würde er nie verwenden.

Wallraff ist 77 Jahre alt. Er hatte im April einen schweren Fahrradunfall. Seitdem hat er Titanplatten im Oberschenkel und ist derzeit auf Krücken angewiesen. Ans Aufhören denkt er nicht: „Ich will mich so lange nützlich machen, solange ich auch was erreiche.“ Wallraff fördert den Nachwuchs und hat eine Stiftung gegründet, mit der er jüngeren investigativen Journalisten finanziell unter die Arme greifen will. Dabei wünscht er sich Nachwuchs aus dem Arbeitermilieu. Deren Positionen bräuchte es im Journalismus. Allerdings fänden die sich immer weniger. 


Für seine Recherche-Methoden steht Günter Wallraff auch in der Kritik. Einer seiner schärfsten Kritiker ist Uwe Herzog, Journalist und langjähriger Weggefährte Wallraffs. Im Interview mit pressesprecher bemängelt er eine Missachtung des Pressekodex und mangelnde Moral. 

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe KRISE. Das Heft können Sie hier bestellen.

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