Was der ehemalige "Manager Magazin"-Sprachjuror von einem guten Geschäftsbericht erwartet

Herr Keller, ist der Geschäfts­bericht die Königsdisziplin der ­Unternehmenskommunikation?
Rudi Keller: Ja, auf jeden Fall. Der Geschäftsbericht ist ein Selbstdarstellungsinstrument. Es ist die einzige Publikation eines Unternehmens, die das Geschäftsmodell zeigt. Eine gute Gelegenheit, sich umfassend einer gewissen Öffentlichkeit zu präsentieren. Analysten sagen oft, der Bericht hätte keine Zukunft mehr, da man auch alle Infos aus dem Internet bekäme. Ob das stimmt, hängt jedoch davon ab, welches Ziel das Unternehmen hat. Wenn man nur die Geschäftszahlen veröffentlichen möchte, braucht man dafür natürlich nicht 400.000 Euro im Jahr ausgeben. Es ist wie mit der Kleidung: wenn sie nur dazu dient, uns zu schützen und zu verdecken, braucht es keine Seidenkrawatte.
 

Und welche kommunikativen Ziele verfolgt ein Jahresabschlussbericht?
Das kann man so pauschal nicht sagen, man sollte aber immer definieren, „Was ist in diesem Jahr unser Hauptkommunikationsziel?“. Eines könnte sein, verlorenes Vertrauen wieder zu gewinnen oder wie bei der Deutschen Post den Wechsel von einer Behörde zu einer Aktiengesellschaft zu kommunizieren.
 

Wie muss ein  Text aussehen, um diese Ziele  zu erreichen?
Bloß keinen bürokratischen Stil verwenden! Wer Texte schreibt wie das Einwohnermeldeamt, wird vom Leser auch als Unternehmen wahrgenommen, das sich wie das Einwohnermeldeamt verhält. Man sollte freundlich und nicht langweilig und gestelzt formulieren.

Sollen in diesen „freundlichen Text“ auch negative Ereignisse aufgenommen werden?
Auf jeden Fall, alles andere ist unglaubwürdig. Dass ein Jahr lang alles so läuft, wie man sich das vorstellt, ist sehr unwahrscheinlich. Wenn man Vertrauen erwecken möchte, darf man nicht den großen Max machen, dem immer alles gelingt. In etlichen Gesprächen mit Unternehmen habe ich gesagt: „Hier an dieser Stelle ist irgendein Hund begraben“, ohne zu wissen, woran das liegt. Man merkt das beim Lesen, da wird es plötzlich dunkel und verschroben und der Leser wundert sich. Man sollte also klar formulieren und den Leser nicht hereinlegen.

Sie waren von 1996 bis 2012 Juror im Bereich „Sprache“ für den „Manager Magazin“-Wettbewerb „Der beste Geschäftsbericht“. Wonach haben Sie entschieden, wer gewinnt?
Wichtig ist die Leserfreundlichkeit. Die Berichte der BASF vor 15 Jahren konnte man beispielsweise nur mit einer Promotion in Chemie verstehen. In anderen Berichten wurden auch oft Eitelkeiten der Ingenieure berücksichtigt. Wie der Bremskraftverstärker in meinem Mercedes funktioniert, interessiert mich jedoch nicht, wenn ich einen Bericht lese. Es schadet auch nicht, amüsant zu sein in seinem Geschäftsbericht. Die Leser, also die Aktionäre, sind keine Finanzfachleute, sondern eher „gebildete Laien“. Der Bericht ist nicht nur für Analysten verfasst worden! Deswegen muss die Sprache für jedermann verständlich sein. Dabei geht es nicht unbedingt um finanz-, sondern vor allem um branchenspezifische Begriffe.

Wie haben Sie die Verständlichkeit gemessen?
Es gab zuvor keine Modelle, nach denen man die Qualität von Texten bewerten konnte. Die Firmen haben häufig nach den Gründen für ihre Platzierung gefragt, darauf wollten wir auch antworten können. Deshalb habe ich einen Kriterienkatalog erstellt. Sehr gut abgeschnitten hat oft ThyssenKrupp, fast regelmäßig auch Gildemeister, heute DMG Mori Seiki.

Haben Sie den Eindruck, die Unternehmen richten sich nach diesem Katalog?
Ja, das weiß ich auch explizit. Viele Firmen haben uns Juroren kontaktiert und Gutachten bestellt. All jene überprüften ihre Berichte im Vorfeld auch mit der Checkliste. Die Sprache war für viele auch das Hauptproblem.

Was sind typische Schwächen von Geschäftsberichten?
Das Ranking hat glücklicherweise etliches bewirkt. Am Anfang waren in den Berichten unheimlich viele Redundanzen. Die BASF beispielsweise schrieb im allgemeinen Teil, im Sparten- und Regionalbericht über die Vitamine, die sie herstellen. Das geht nicht. Und – das ist jetzt keine gewaltige Idee – man sollte wirklich auf Konsistenz achten. Wenn man „Prozent“ ausschreibt, sollte man das auch durchhalten und nicht zwei Seiten später das Prozentzeichen verwenden. Solche kleinen Standardisierungen sind wichtig, da der Bericht von mehreren Personen geschrieben wird. Auch das Bürokratendeutsch war lange Zeit ein sehr großes Problem. Geschäftsberichtsjargon wie „ursächlich für dies und das“, Substantivierungen mit –ung und Satzklammern, die Verben, wie „stellen … an“, meilenweit vom zweiten Teil trennen, sind kognitiv belastend für den Leser. Es gab auch häufig Sätze, die über vier Zeilen gehen. Thomas Mann macht das natürlich auch, aber den liest man abends im Bett in Ruhe. Ein Geschäftsberichtsleser macht das naturgemäß nicht.

Kann ein Unternehmen mit schlechter Bilanz dennoch einen guten Bericht schreiben?
Oh ja, beispielsweise die Haffa-Brüder. Die Gründer des Medienunternehmens EM.TV haben sich zwar als Betrüger entpuppt, hätten bei uns aber um ein Haar gewonnen. Ihren Betrug haben sie einfach gut dargestellt. Das ist wahrscheinlich auch die Fähigkeit eines Betrügers. Aber das ist sehr selten! Was ich immer interessant fand: Wer inhaltlich gut abschnitt, lag auch in den Bereichen Sprache und Gestaltung vorn. Ist jemand wirtschaftswissenschaftlich offen und ehrlich, ist er also auch in allen drei Bereichen sehr gut.

Was zeichnet einen guten Stil im Geschäftsbericht aus? Sind Metaphern angebracht?
Metaphern haben den Vorteil, dass sie sehr greifbar sind, der Text viel lebendiger wird. Man darf es natürlich nicht übertreiben, das wirkt gekünstelt und albern. Und man sollte darauf achten, sie richtig anzuwenden. „Wir haben auf allen Feldern die Weichen neu gestellt“, da hat man eine Landwirtschaftsmetapher mit einer Eisenbahnmetapher kombiniert. Das passt nicht zusammen.

Was wird an sprachlichen Möglichkeiten am meisten unterschätzt?
Im Deutschen unterscheidet sich die Art, wie wir sprechen sehr von der, wie wir schreiben. Ein guter Text jedoch orientiert sich stark an der gesprochenen Sprache. Wenn man sich seine Texte selbst laut vorliest, merkt man schnell, ob sie einen guten Rhythmus haben. Da kann ruhig mal salopper formuliert werden, und dann wieder etwas formeller. Das wirkt angenehm auf den Leser.

Wie wichtig ist die Interpunktion, die ja auch Rhythmus in den Text bringt?
Sehr wichtig! Man sieht manchmal auf den ersten Blick, ob ein Text lebendig geschrieben ist oder nicht. Wenn er nur Punkte und Kommata enthält, ist er wahrscheinlich nicht so toll. Fragen sind beispielsweise ein sehr gutes Mittel, um Spannung zu erzeugen. „Was ist der Vorteil für unsere Anleger?“ ist viel spannender als „Der Vorteil für unsere Anleger ist…“. Der Leser ist dadurch geistig stärker involviert. Ich rate immer, „Versucht das volle Repertoire der Satzeichen auszunutzen!“ Dann wird der Text auch syntaktisch vielfältiger, und man kommt weg von einer Aneinanderreihung von Aussagesätzen.

Ist die Gestaltung Ihrer Meinung nach genauso wichtig wie die Sprache und der Inhalt?
Die Gewichtung der Ranking-Entscheidung war 60/20/20. 60 Prozent Inhalt, 20 Prozent Sprache, 20 Prozent Gestaltung. Natürlich müssen die Zahlen stimmen. Die Grafik ist auch nicht zu unterschätzen. Die serifenlose Hausschrift der Telekom war für mich beispielsweise immer mühselig. Auch der geringe Zeilenabstand war anstrengend  – da hatte ich ein ungutes Gefühl beim Lesen. Ob der Bericht einspaltig oder mehrspaltig ist, ist auch sehr wichtig für die Leserlichkeit. Am besten fanden wir einspaltige Texte, die in Flattersatz gesetzt sind.

Kommen wir noch kurz zum „Vorwort“ des Geschäftsberichts. Welcher Stil ist beim „Brief an die Aktionäre“ angemessen?
Früher hat irgendjemand den Lagebericht geschrieben und sich danach an den Brief für die Aktionäre gesetzt. Dann war dieser eine Kurzfassung des Lageberichts. Damit sagt man dem Leser: „Unser Vorstandsvorsitzender ist sehr gut im Zusammenfassen von Lageberichten.“ Also bitte: Der Text muss zum Autor passen und sich stilistisch vom Rest unterscheiden. Ich erwarte strategische Aussagen des Vorsitzenden oder mögliche Konsequenzen aus Fehlern. Wenn VW im Brief schreibt, wir haben so und so viele Fortbildungen durchgeführt, gehört das in den Bericht, nicht in den Brief. Sehr gute Briefe schrieb beispielsweise der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Deutschen Post, Klaus Zumwinkel.

Wie hat sich Ihrer Meinung nach die Sprache der Geschäftsberichte entwickelt in den vergangenen zwanzig Jahren?
Die großen Unternehmen haben sich allesamt deutlich verbessert. Einige weniger stark, und neue Unternehmen fangen bei null an und brauchen noch ein paar Jahre für einen guten Geschäftsbericht. Es gibt auch welche, die sich überhaupt nicht für den Bericht interessieren. Was ja auch okay ist.

Und welcher Geschäftsbericht ist für Sie persönlich der beste, den Sie bisher gelesen haben?
Das wechselt oft. Aber in einer gewissen Phase hat der Vorstandsvorsitzende der Mannheimer Versicherung  hervorragende Texte geschrieben! Von ihm wusste ich auch, dass er sie größtenteils selbst verfasst hat. 

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Sprache. Das Heft können Sie hier bestellen.

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