Warten auf Marcel

Künstliche Intelligenz

Der wichtigste Mitarbeiter ist noch nicht geboren und schon der umstrittenste Neueinstieg des Unternehmens: Marcel. Der künftige Assistent von Publicis soll alles wissen, jeden kennen, alle vernetzen und Prozesse beschleunigen. Im Juni 2018 wird Marcel seinen ersten Arbeitstag haben − als künstliche Intelligenz für das Wissensmanagement und die interne Kommunikation der drittgrößten Agenturgruppe der Welt.

Gesteuert über Sprache und ausgestattet mit lernenden Algorithmen, soll Marcel das Netzwerk verbinden. Steht zum Beispiel ein neues Projekt an, soll er die Mitarbeiter mit der besten Expertise weltweit finden sowie bisherige Erfahrungen und Hintergrundinformationen bereitstellen. Die Versprechen sind groß, dass mit Marcel alles besser wird. Es sei höchste Zeit, sich zu verändern, sagt CEO Arthur Sadoun. Ein Jahr lang will die gesamte Gruppe nicht an Awards teilnehmen, um Ressourcen zu bündeln. Viele ärgert das, vor allem die Kreativen. In einem Twitter-Chat mit Sadoun haben sie sich Luft gemacht. Doch der Chef ist von der Vision und dem Nutzen für alle überzeugt. Er will die Gruppe „von einem Netzwerk zu einer Plattform“ führen. Gerade Agenturen haben einen solchen Wandel bitter nötig.

Ineffizienzen beseitigen

Agenturen leben von Daten, von dem Wissen der Mitarbeiter und über Kunden, das sie oft nur schlecht dokumentieren. Vor allem in Pitch-Zeiten entstehen Überstunden; Ideen landen im Papierkorb, weil Informationen nicht aufbereitet sind. Das nervt und kostet Zeit. Von Publicis-Gründer ­Marcel Bleustein-Blanchet stammt das Zitat: „Ein Unternehmer ist jemand, der so wenig Zeit wie möglich zwischen einer Idee und ihrer Umsetzung verliert.“ Nicht umsonst wurde Publicis’ KI nach dem Gründer benannt. „Der Satz bringt es auf den Punkt“, sagt Marcel-Chefentwickler Chip Register. „Wir müssen schneller werden, mehr zusammenarbeiten, Wissen und Erfahrungen besser teilen und Ineffizienzen beseitigen. Genau daran soll Marcel anknüpfen.“ Register ist Co-CEO von Publicis Sapient, dem IT-Ableger der Gruppe. Sapient wird Marcel intern realisieren, auch mit dem Zukauf externer Software. „Von unseren Leuten für unsere Leute“, sagt Register. „Es soll zu uns und unseren Anforderungen passen.“

Mit den IT-Spezialisten hat sich die Gruppe das Know-how vor drei Jahren dazugekauft. Gut möglich, dass sich Sapient mit Marcel einen Namen machen und ein eigenes KI-Produkt verkaufen will. Doch das ist Zukunftsmusik. Der nächste Schritt ist die „Viva Tech“, eine jährliche Publicis-Veranstaltung, die im Juni 2018 in Paris stattfindet. Bis dahin soll Marcel fertig sein. „Die Basisversion“, wie Register betont.

Elf Monate sind nichts, um ein System für 80.000 Menschen in 130 Ländern zu programmieren. Umfragen sollen ermitteln, was sich Mitarbeiter am dringendsten wünschen. Danach wird priorisiert: Was lässt sich schnell umsetzen? Was preiswert? Was wird in Zukunft einfacher möglich sein?

Zu Beginn wird Marcel wahrscheinlich nur Französisch und Englisch sprechen. Übersetzungsprogramme würden bald noch zuverlässiger und günstiger sein, prognostiziert Register. Das ließe sich immer noch einbauen. „Marcel wird nie fertig sein. Es wird immer technische Verbesserungen geben, die wir aufgreifen müssen, um weiterhin führend bei Innovationen zu sein.“

Eigene Silos überwinden

Einen französischen Akzent hätte sich Wigan Salazar gewünscht, CEO von MSL Deutschland, einer der Agenturen im Publicis-Netz. „Das hätte gut zum Unternehmen gepasst.“ Ansonsten erhofft er sich nichts Geringeres als „eine Offenbarung an neuen Ideen und Tiefeneinblicken in das Wissen weltweit“. Momentan arbeite man zu sehr lokal und unter sich.

Publicis, ein Netz von gewachsenen Strukturen, versucht zu verschmelzen, was getrennt funktioniert. „The Power of One“ hat das Maurice Lévy genannt, heute Aufsichtsratschef und damals CEO der Gruppe. Er wollte „Silos einreißen“ – Abgrenzungen, die in vielen Unternehmen mit der Zeit entstehen und sie verlangsamen. Marcel ist der nächste Schritt dieser Strategie.

Er wisse nicht, ob es gelingen könne, mit Marcel alle Mauern einzureißen, sagt Chip Register. „Es wird immer organisatorische Strukturen geben. Die Frage ist, ob sie einem helfen oder schaden. Marcel soll die negativen Effekte minimieren, indem er den Leuten erlaubt, über die Strukturen hinauszureichen, und Wissen außerhalb des eigenen Silos verfügbar machen.“

Bisher hat Publicis noch nicht einmal ein Intranet, um das Wissen agenturübergreifend zu teilen. „Marcel soll die Brücke sein von etwas Altem zu etwas ganz Neuem. Dafür überspringen wir vielleicht ein paar Schritte“, sagt Register.

Die Vision trifft den Puls der Zeit. Ariana Fischer, Expertin für Organisationsentwicklung und interne Kommunikation, sagt: „Der Druck auf Unternehmen ist groß, smarte Lösungen zu schaffen, um Wissen für alle verfügbar zu machen. Durch den demografischen Wandel werden viele Konzerne einen Großteil ihrer Mitarbeiter verlieren. Implizites Wissen, das bis dahin nicht dokumentiert ist, geht verloren.“

Agenturen verlieren Wissen eher durch Personalwechsel als an den Renteneintritt – aber das Problem bleibt. Zudem gibt es eine Überlas­tung einzelner Mitarbeiter, die besser vernetzt sind als andere. Marcel, so die Hoffnung, soll die Arbeit gerechter verteilen und Wissen demokratisieren.

Kontrollverlust zulassen

Die Herausforderung: Wissen zu teilen, ist in vielen Unternehmen kein Wert – im Gegenteil. „Die Bewertungssysteme bauen eher noch darauf auf, dass man Wissen besitzt, das kein anderer hat“, sagt Fischer. Auch wenn Linked In oder Facebook privat funktionieren, heißt das nicht, dass Mitarbeiter am Arbeitsplatz Informationen leichtfertig teilen. Social Intranets sind keine Selbstläufer.

Das weiß auch Tobias Geiger, Leiter Interne Kommunikation und Digitalisierung bei der Deutschen Bahn. Seit 2015 geisterte die Idee eines „DB Planet“ durch den Konzern. Im April 2017 ging das neue Intranet live. Es soll den Informationsfluss verbessern und mehr Möglichkeiten bieten, sich zu beteiligen. Genau diesen Mangel hatten Mitarbeiter in internen Umfragen beklagt. Dank „mobile first“ haben nun auch jene Zugang, die bislang keinen PC für ihre Arbeit nutzen – nicht unwichtig für einen Konzern, dessen Angestellte zum Teil quer durch das Land fahren.

Von den 200.000 Mitarbeitern der Bahn deutschlandweit sind − Stand Juli − 66.000 auf „DB Planet“ aktiv. Ein „fantastischer Wert nach nur vier Monaten“, findet Geiger. Eine fünfköpfige Redaktion belebt das Social Intranet, und auch der Vorstand zeigt, was aktive Teilhabe ist. Dazu gehört Mut: Plötzlich kann jeder kommentieren und teilen. „Den Kontrollverlust muss man in der internen Kommunikation zulassen, wenn man Dialog und Wissen dynamisieren will“, meint Geiger.

Daten als Mehrwert

Die Freiwilligkeit, auf der der „DB Planet“ fußt, ist ein wichtiger Hebel. Die Persönlichkeitsrechte und Mitbestimmungen durch Betriebsräte in Deutschland lassen kaum etwas anderes zu. Was an Debatten rund um Marcel auf Publicis zurollt, ist Chip Register heute noch nicht bewusst. Eine interne Kampagne sei als Teil des Rollouts fest eingeplant, sagt er. Konkreteres gibt es noch nicht.

Wie wichtig eine begleitende Kommunikation ist, weiß Ariana Fischer. Unternehmen könnten mit spielerischen Anreizen wie Belohnungs-Sternchen für selbst verfasste Beiträge Mitarbeiter motivieren. Schulungen und Coaches seien sinnvoll – keiner gibt gerne zu, wenn er das System nicht versteht oder nicht weiß, was von ihm erwartet wird. „Selbst wenn eine Technik intuitiv funktioniert, darf ich die Mitarbeiter nicht alleine lassen“, sagt Fischer.

Um die Wissensorganisation zu revolutionieren, müssen Unternehmen einen langen Atem mitbringen. Ein bis zwei Jahre dauert es laut Fischer sicher, bis ein Social Intranet von alleine läuft – eine ganze Wissensorganisation zu revolutionieren deutlich länger. „Wir begeben uns gemeinsam auf eine Reise“, sagt Register. Wohin diese Reise geht, ist für viele noch offen.

Als ein „gespanntes Warten“ beschreibt Salazar die Stimmung bei MSL: „Wir versuchen zu antizipieren, was Marcel braucht, und starten mit der Vorarbeit.“ Die Agentur aktualisiert Lebensläufe und Kundendaten, verschlagwortet und anonymisiert, was vertraulich ist. „Wir wollen mit unseren Kompetenzen sichtbar sein“, sagt Salazar. „Wenn wir nicht mitmachen, funktioniert es nicht.“

Marcel baut auf Partizipation, erst recht als KI. „Es ist ein Kennzeichen von heutiger künstlicher Intelligenz, dass sie nur für den Bereich intelligent ist, für den sie trainiert wurde, und nicht für den Rest darum herum. Man muss also genau wissen, wofür man sie einsetzt“, sagt Thomas Ross, Partner in der Unternehmensberatung von IBM und Experte für die bekannteste KI auf dem Markt: Watson.

Viele Unternehmen in Deutschland konzentrieren sich beim Einsatz künstlicher Intelligenz auf abgegrenzte Bereiche. Einen so umfassenden Ansatz wie den von Publicis findet Ross visionär: „Daten systematisch und unternehmensweit als Mehrwert zu erkennen und zu erschließen, ist ein wichtiger Schritt und hat eine neue Qualität“, findet er. Von einer „internen Datenkultur“ seien viele Unternehmen noch weit entfernt, auch wenn sie das Ziel teilen. Die Anfänge seien da, ein „Chief Data Officer“ zum Beispiel oder Computerlinguisten, die wissen, wie man mit Algorithmen aus Daten Erkenntnisse gewinnt.

Mensch gegen Roboter

Früher oder später muss jeder lernen, mit einem Computer zu sprechen. Siri, Alexa und erste Bots in Service-Centern trainieren uns bereits im Alltag. Wie leicht Nutzer eine künstliche Intelligenz ruinieren, hat Microsoft erlebt. 2016 startete auf Twitter „Tay“. Nur kurze Zeit später musste der Bot offline gehen, weil er – den eingegebenen Botschaften geschuldet − den Holocaust leugnete und Nutzer verfluchte.

Jeder Nutzer trägt eine Verantwortung für das, was er schafft. „Wir müssen uns nicht nur damit auseinandersetzen, wie Marcel unsere Art zu arbeiten und sogar unsere Kultur verändert. Sondern auch wie wir Marcel formen, basierend auf dem, was wir schätzen und nicht ändern wollen“, sagt Register.

Vor dem Start in Paris muss Marcel in ein Trainingslager. Die Grundlagen müssen da sein, keine KI startet dumm. „Wenn Marcel live geht, muss er einen Wow-Effekt haben“, sagt Fischer. Zwei bis drei Punkte, mit denen Mitarbeiter den Mehrwert erleben können. „Zweck und Struktur müssen transparent sein“, sagt Ross. „Gerade bei einer künstlichen Intelligenz entsteht sonst schnell die Angst, dass ein Roboter kommt, der mir die Arbeit wegnimmt.“

Die ganze KI-Debatte ist so belastet, dass IBM bei Watson nicht mehr von einer künstlichen, sondern von einer „verstärkten“ Intelligenz spricht (Augmented Intelligence): „Es geht nicht darum, menschliche Intelligenz zu ersetzen, sondern darum, den Menschen durch künstliche Intelligenz zu unterstützen, ganz ähnlich wie alle Werkzeuge, die sich der Mensch in der Evolution zu Nutzen gemacht hat“, sagt Ross.

Wenn Mitarbeiter in Agenturen ihr wertvolles Gut aus den Händen geben, ihr Wissen, müssen sie sicher sein, dass die künstliche ­Intelligenz sie nicht irgendwann ersetzt. Es gibt erste Computersysteme, die sogar kreativ arbeiten und eigene Musik produzieren – auch wenn die Qualität noch in Frage steht.

Marcel solle für andere einen Mehrwert schaffen, sagt Register. Wenn Publicis in einem Jahr wieder zu Awards antritt, würde ihn ein Preis für die KI zwar freuen. Aber: „Die größte Auszeichnung wäre es, wenn unsere Mitarbeiter einen Award für ihre kreativen Ideen bekommen, die dank Marcel möglich waren.“

Wie sage ich es meinem Computer?

Vier Tipps für die Kommunikation mit einer künstlichen Intelligenz:

1. Sagen Sie es eindeutig!
Ihr Computer kann Kontexte schlechter erschließen als Sie.

2. Sparen Sie sich Metaphern!
Computer nehmen alles wörtlich, dafür wurden sie programmiert.

3. Fassen Sie sich kurz!
Computer denken nicht redundant und filtern im Zweifel die falsche Information.

4. Bleiben Sie korrekt!
Menschen verzhn Fhler und vrsthn Txte trotzdem − Computer nicht.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe TEMPO. Das Heft können Sie hier bestellen.

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