Virtuelle Realität – eine Chance für die PR?

Bewegtbildkommunikation

Nehmen wir den Flughafen BER – den geplanten Flughafen BER, um genau zu sein. Regel­mäßig werden hier die am Baufortschritt interessierten Journalisten durch das Gebäude geführt, ein wirklich sehr großes Gebäude, das selbst fitte Kollegen durchaus vor Probleme stellen könnte. Stellen wir uns also kurz vor – und der BER ist bekanntermaßen eine gute Projektionsfläche für Fantas­tereien –, Journalisten könnten den Flughafen besichtigen, ohne die Reise dorthin und über das riesige Gelände zurücklegen zu müssen. Am Computer schalteten sie sich in eine virtuelle Presse­konferenz, das wäre die Idee; sie könnten sich umschauen, oben, unten, vorne, hinten. Zeit und Ressourcen würden gespart, und man weiß, was dieses Versprechen Redaktionen bedeutet.

Der technische Aufwand wäre überschaubar, und die Variante mit dem BER ist nicht so weit hergeholt, wie sie klingen mag. Das Verfahren wird nämlich jetzt schon angewendet, um beispielsweise Baustellen in Süd­amerika zu besichtigen, ohne dass teilhabende CEOs dafür extra anreisen müssen. Virtuelle Realität (VR) ist der Oberbegriff für die Technik, und die beinhaltet nach allgemeinem Verständnis auch 360-Grad-Darstellungen. Nötig sind für Letztere nur eine oder gegebenenfalls ­mehrere 360-Grad-Kameras, die einen kompletten Rundumblick von einem Punkt aus ermöglichen. Die Technik ist weit fortgeschritten und vor allem im Unterhaltungsbereich verbreitet: Hier kann man auf dem heimischen Sofa mit einer VR-Brille, Einstiegspreis unter 100 Euro, Achterbahnfahrten und andere Sachen unternehmen, nach denen einem zuverlässig schwindelig wird. 360-Grad-­Darstellungen sind aber grundsätzlich auch am Computer darstellbar. Die Süddeutsche Zeitung setzt auf die Technik, die New York Times als Vorreiter sowieso. Im Bereich der PR- und Öffentlichkeitsarbeit steht man jedoch noch am Anfang.

Bilanz-PK im 360-Grad-Stream

Ein Pionier ist Bertelsmann. Die diesjährige Bilanzpressekonferenz wurde live per 360-Grad-Stream übertragen. Karin Schlautmann, die Leiterin der Bertelsmann-Unternehmenskommunikation, wollte die Pressekonferenz damit auf noch eine weitere Art erlebbar machen, wie sie sagt. Dem zugeschalteten Publikum war es so möglich, sich während der Veranstaltung im Raum umzuschauen. Für Journalisten wahrscheinlich ein eher geringeres Vergnügen, denn Pressekonferenzen sind für sie in aller Regel nichts, was sie in 360 Grad erleben müssen – schließlich gehen sie mitunter mehrmals wöchentlich zu solchen Veranstaltungen.

Bertelsmann ging es um die Meta-Botschaft. „Neue Wege zu gehen, ist aus meiner Sicht für den Erfolg von Kommunikation unabdingbar“, sagt Karin Schlautmann. „Die digitale Transformation ist fester Bestandteil der Unternehmensstrategie von Bertelsmann – und damit auch der Kommunikationsarbeit.“ Sprich: Bertelsmann will zeigen, dass es neuen Techniken wie der VR aufgeschlossen gegenüber ist und sich als Vorreiter versteht. Es ist davon auszugehen, dass auch die Kommunikationsabteilungen anderer Institutionen und Unternehmen dem Beispiel bald folgen könnten.

Partner Bertelsmanns bei der Bilanzpressekonferenz war die VR-Agentur A4VR aus Düsseldorf. Vor zwei Jahren gründete Jan Thiel mit einem Freund die Firma. Thiel war nach seiner ersten virtuellen Achterbahnfahrt mit einer VR-Brille Feuer und Flamme für die Technik – tatsächlich ein Erweckungserlebnis, das man immer wieder in der VR-Szene hört. Die 360-Grad-Übertragung ermögliche Menschen, die zu Pressekonferenzen nicht eingeladen werden, aber trotzdem eine Beziehung zum Unternehmen haben, einen exklusiven Einblick, sagt Thiel. Mittels einer ­Heatmap konnte anschließend auch ausgewertet werden, in welche Richtungen das zugeschaltete Publikum schaute. Maßgeblich nach vorne, sagt Thiel, aber die Blicke schweiften auch durch den Raum. VR war hier also eine Spielerei, die für zusätzliches Interesse sorgte.

Thiel hat vor allem Auftraggeber aus dem Unterhaltungsbereich. „The Voice of ­Germany“ wurde im 360-Grad-Stream übertragen, „Circus Halligalli“ und das Magazin „Galileo“ – alles Produktionen von ProsiebenSat.1, mit dem A4VR eng zusammenarbeitet. Aber es gibt eben auch viele Einsatzmöglichkeiten in der Öffentlichkeitsarbeit, sagt Thiel. So gestalte A4VR einen Film für die Hilfsorganisation SOS Kinderdorf. Im Unterschied zur 360-Grad-Übertragung befindet sich der Zuschauer hier nicht an einem festen Punkt, sondern wird durch einen Film mit mehreren Anlaufstellen geführt. Und zwar vom zehnjährigen Mädchen Nala, das dem Zuschauer verschiedene Orte eines Kinderdorfs in Nairobi zeigt und ihm erklärt, wer dort gerade was macht. „Man wird so zum Akteur im Film und erlebt die Geschichte hautnah“, sagt Thiel.

VR nicht inflationär einsetzen

Während solche erzählten Geschichten etwas aufwändiger zu produzieren sind, ermöglichen einfache 360-Grad-Darstellungen einen relativ leichten Einstieg in die Technik. Der Marketing-Dienstleister ­Clipessence aus Berlin ist nur ein Beispiel für die Vielzahl von Agenturen, die so etwas inzwischen anbieten. „Es gibt kein anderes Medium, mit dem man Menschen Situationen so intensiv erleben, in Umgebungen eintauchen lassen kann“, sagt Ulf Beyschlag, Geschäftsführer von ­Clipessence. „Das erzeugt Empathie, Identifikation und Aufmerksamkeit.“ Für ein großes Touristik-Unternehmen hat Beyschlags Firma 360-Grad-Videos produziert, mit denen man einen Rundumblick zum Beispiel des Vierwaldstätter Sees erhaschen oder sich auf eine Safari in Afrika begeben kann. Das geht mit VR-Brille, aber auch ohne, betont Beyschlag. Eine große Reichweite sei also ohne Weiteres möglich. Ein Browser oder eine App würden genügen.

Beyschlag sagt, dass die VR-Technik noch in den Anfängen stecke. Und Peter Gocht sagt, dass ihr die Zukunft gehöre. Gocht ist Global Executive Creative Director der Serviceplan Group in Hamburg. Er kann sehr euphorisch über VR-Techniken erzählen, erst seit ein paar Jahren arbeitet er damit, dafür aber umso intensiver. „Ich versuche das, was damit möglich ist, mit dem zu verknüpfen, was ich über Kommunikation weiß“, sagt er. Und daher weiß er eben auch, dass Technik nicht alles ist.

Denn das dürfe man bei aller VR-Begeisterung nicht vergessen: Wie an Touchpads und 3D-Filme würden sich Nutzer sehr schnell auch an VR und 360-Grad-Darstellungen gewöhnen. Und sei es heute noch ein Alleinstellungsmerkmal, beispielsweise Bilanzpressekonferenzen im Rundum-Modus zu übertragen, werde das bei weiterer Verbreitung kaum noch zusätzliches Interesse erregen. „Je öfter man es macht, desto mehr gewöhnt man sich an das Gefühl“, sagt Gocht. „Deshalb kommt es dann darauf an, was passiert.“

Botschaft und Medium müssen zueinander passen. „VR ist ein neuer Baustein im Media­plan mit neuen Möglichkeiten und eigenen Regeln. Genau wie damals Social Media“, sagt Gocht. Ein Joghurthersteller würde kaum einen PR-Gewinn erzielen, wenn er in einem Film durch seine Produktionstandort mit 360-Grad-Brille führte. In der Öffentlichkeitsarbeit sei VR vor allem dann ein Gewinn, wenn virtuell etwas gezeigt werde, was real nicht umsetzbar wäre. Der Einsatz eines Tunnelbohrers zum Beispiel.

In der Kommunikation und PR sind ebenfalls viele Szenarien denkbar: sei es bei der ­Präsentation eines neuen Airbus-Typs oder globalen Medienereignissen wie der Vorstellung eines neuen Apple-Produkts. „Es gibt ein riesiges Potenzial“, sagt Gocht. Nur sollten Kommunikatoren sich mit VR auseinandersetzen, bevor sie sie nutzten. Andernfalls würde das Publikum sich sehr bald langweilen, weil bei zunehmendem Einsatz VR als reine Technik niemanden mehr umhaue – ähnlich wie beim 3D-Kino, das längst nicht mehr die Begeisterung auslöse wie noch am Anfang. Der VR könnte es genauso gehen, werde sie nicht zielgerichtet eingesetzt. Dann werde das für die Leute wieder nur so ein Ding, mit dem sie sich umschauen können, warnt Gocht.

 

Was ist virtuelle Realität?

Virtuelle Realität ermöglicht es Nutzern, in ein Szenario einzutauchen, ohne vor Ort zu sein. Das passiert über eine programmierte virtuelle Realität. In einem künstlichen ­dreidimensionalen Raum kann man sich dabei mit einer speziellen Brille bewegen und interagieren. Die 360-Grad-Darstellung ist daher im engeren Sinne keine virtuelle Realität, sondern die Rundum-Aufnahme eines realen Raums oder einer Szene, zum Beispiel einer Achterbahnfahrt. Die 360-Grad-Darstellung ist weiter verbreitet als programmierte Darstellung – nicht zuletzt weil sie deutlich günstiger ­umzusetzen ist.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe EHRLICHKEIT. Das Heft können Sie hier bestellen.

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