Tesa: Der Umzug als Heldenreise

Storytelling

Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem eine Tochter groß und das Jugendzimmer zu klein wird. Die logische Konsequenz: der Auszug aus dem Elternhaus. Was sich im Privaten abspielt, verläuft im Beruflichen nicht anders. Mit den bekannten Begleiterscheinungen: Jedwede Veränderung verursacht beim „Gewohnheitstier“ Mensch zunächst Unsicherheit, manchmal sogar Angst, mehr oder weniger Trennungsschmerz – und dann im besten Fall reichlich Freude über das neue Zuhause.

Mehr als 120 Jahre waren die Mitarbeiter von Beiersdorf (unter anderem Nivea) und Tesa unter einem Dach in Hamburg-Eimsbüttel vereint. Da sich die Geschäftsmodelle der Beiersdorf AG mit dem Fokus auf Endverbraucher und der heutigen Tesa SE, die etwa 75 Prozent ihres Umsatzes im B2B erzielt, stark voneinander unterscheiden, erfolgte 2001 die Ausgründung der Klebeband-Sparte als 100-prozentige Beiersdorf-Tochter. Das Geschäft florierte, vor allem in neuen Anwendungsbereichen wie technologisch anspruchsvollen Verklebungen im Elektronik- und Automobilbereich. Folge: Für die rund 1.000 Tesa-Mitarbeiter am Stammsitz wurde es zu eng. Verwaltung sowie Forschung und Entwicklung waren in mehreren Gebäuden untergebracht.

Um eine zukunftsorientierte Lösung zu finden, die das Wachstum nachhaltig sichert, begab sich das Unternehmen auf die Suche nach einem geeigneten Baugrundstück. Im November 2012 erfolgte der erste Spatenstich für die eigene Unternehmenszentrale; nach dreijähriger Bauzeit konnte das neue Headquarter mit integriertem Forschungs- und Technologiezentrum in Norderstedt bezogen werden.

Krisen durch kommunikatives Chaos

Umzüge stehen auf der „Hitliste“ der Chang­e-Klassiker ganz weit oben. In unterschiedlichen Studien publizieren Experten ähnliche Ergebnisse: Veränderungsprozesse scheitern, wenn seitens der obersten Führungsebenen ein zu geringes Commitment vorhanden ist oder unklare Ziele beziehungsweise Visionen definiert werden. Weitere K.O.-Kriterien sind eine ungenügende Einbeziehung der Mitarbeiter, kaum Möglichkeiten zur Bewältigung von Ängsten oder – ganz simpel – fehlende personelle Ressourcen. Außerdem kommt ein Missstand oft nicht allein …

Und: Schwierigkeiten im Rahmen von Chan­ge-Projekten beruhen bisweilen zu 90 Prozent auf Problemen in puncto Kommunikation. Soll heißen: Nicht per se die Tatsache, dass beispielsweise eine Unternehmensverlagerung stattfindet, verursacht „Bauchschmerzen“, sondern eher die Frage, wann und in welcher Weise dieses kommuniziert wird und wie das Unternehmen seine Mitarbeiter auf der Reise in die neue Welt mitnimmt.

Holistischer Ansatz des Storytellings

Tesa wählte einen ungewöhnlichen holistischen Ansatz, um den Umzugsprozess kommunikativ zu begleiten: das Modell der Heldenreise, ursprünglich von Joseph Campbell entwickelt und später von Christopher Vogler für Hollywood-Drehbücher adaptiert. „Die Herausforderung des Projekts bestand darin, drei zeitlich voneinander getrennte Umzüge für Headquarter, Technologie- und Forschungszentrum zu orchestrieren“, sagt Reinhart Martin, der als Leiter Corporate Communications die kommunikative „Regie“ führte. „Der ehemalige Standort im Mutterhaus war historisch gewachsen und lag in einem der attraktivsten Hamburger Stadtteile, umgeben von Altbauten, Geschäften und Restaurants. Unser Neubau-Komplex in Norderstedt (Schleswig-Holstein) ist am Rande Hamburgs in unmittelbarer Nähe des Flughafens errichtet worden. Hier galt es, die Mitarbeiter sukzessive an signifikante Veränderungen, zum Beispiel in Bezug auf Fahrtweg und Bürokonzept, zu gewöhnen und sie kontinuierlich in den ­Change-Prozess einzubinden“, erklärt Martin.

Die Heldenreise startete im September 2012 mit dem Ruf des Abenteuers: Der Aufsichtsrat hatte „grünes Licht“ für das größte Investitionsprojekt (160 Millionen Euro) in der Tesa-Historie gegeben. Erwartungsgemäß stieß diese Ankündigung nicht bei allen Kollegen auf ungeteilte Begeisterung, hatten sich etliche doch gewünscht, zukünftig über ein modern ausgestattetes Arbeitsumfeld zu verfügen, ohne auf das liebgewonnene Lebensumfeld verzichten zu müssen.

Betroffene zu Beteiligten machen

„Relativ früh wurde eine Multiplikatoren-Gruppe gebildet. Diese übernahm die wichtige Bindeglied-Funktion zwischen Geschäftsleitung und Belegschaft“, berichtet Reinhart Martin. „Die 25 Kollegen, allesamt keine leitenden Angestellten, sondern kritisch-kons­truktive Geister aus allen Bereichen des Unternehmens, haben wir durchschnittlich einmal im Monat eingeladen, um mit ihnen aktuelle Umzugsthemen zu besprechen, sie vorab über die nächsten Schritte zu informieren und Stimmungsbilder einzuholen“, so Martin.

Die so gewonnenen Fragen und Anregungen wurden in die Kommunikations- und, sofern möglich, Gebäudeplanung einbezogen. Letztlich war die Installierung dieser Mentoren, die diesen Job „ehrenamtlich“ zu ihren normalen Aufgaben übernahmen, ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die Bewältigung insbesondere schwieriger Heldenetappen wie der Verabschiedung des Bürokonzepts. Dieses sieht heute eine 50:50-Aufteilung zwischen Einzel- beziehungsweise Doppelbüros und „Open Space“ vor.

Neubau (c) Tesa

Der Tesa-Neubau mit roter Schleife beim Richtfest (c) Tesa

Geschichte mit zentraler Botschaft

Das Überschreiten der ersten Schwelle vollzog sich im Dezember 2013: Anlässlich des Richtfests nutzten viele Kollegen die Chance, das Gebäude im Rohbau kennenzulernen. Zu diesem Zeitpunkt gestaltete sich der lediglich elf Kilometer lange Rückweg in die gewohnte, behagliche Arbeitswelt mühelos: Zu weit weg schien der geplante Umzug Mitte 2015 – und noch viel zu abstrakt war der halbfertige „graue Riese“, in dem sich kaum erahnen ließ, wer einmal wo im Büro oder Labor tätig sein würde.
Deutlich zeigte sich indes, dass der für dieses Projekt gewählte Claim „one Tesa“ seine identitätsstiftende Wirkung voll erfüllt: „Wenn man sieht, was hier entsteht, und weiß, dass schon bald alle Funktionen an einem Ort zusammenarbeiten werden, bin ich stolz, Tesaner zu sein“, erklärte beispielsweise ein Kollege vor laufender Kamera.

Viele Berührungspunkte durch Events

Die positiven Erfahrungen der kombinierten Richtfest-Weihnachtsfeier, auf der unter anderem auch ein neuer Imagefilm über das Unternehmen inklusive der bereits zurückgelegten Bauetappen gezeigt wurde, motivierten Tesa-Vorstand und Corporate Communications, den weiteren Fortgang des Projekts mit exakt auf die jeweiligen Anlässe zugeschnittenen Veranstaltungen zu begleiten.

„Man kann über viele Dinge im Intranet oder Mitarbeiter-Magazin ausführlich berichten. Events haben jedoch den einzigartigen Effekt, dass sie Menschen zusammenbringen, viele Berührungspunkte schaffen und auf diese Weise harte Fakten emotional und authentisch erlebbar machen“, sagt Dörte Besinger, die als Projektmanagerin sämtliche Events – vom Spatenstich im November 2012 bis zum „Tag der offenen Tür“ mit rund 3.000 Gästen im Mai 2016 – wesentlich mitgeplant und begleitet hat. Zu jeder Veranstaltung wurde ein kurzweiliger „Tesa-Film“ (drei bis vier Minuten) produziert. So konnten alle Beteiligten ihre Erlebnisse via Intranet Revue passieren lassen. Und die Daheimgebliebenen wussten anschließend, was sie wohl versäumt hatten …

Das ­Überschreiten der zweiten Schwelle

Der „Point of no ­return­“ also der Zeitpunkt, an dem auch der letzte Mitarbeiter spürte, dass es fortan kein Zurück mehr gibt und die Heldenreise unweigerlich Fahrt aufnimmt, spielte im Juni 2014: Anlässlich eines Sommerfests auf der Baustelle, bei dem kollektives Fußball-WM-Schauen und Rundgänge durchs Gebäude auf dem Programm standen, hatten alle Kollegen die Chance, ihren zukünftigen Arbeitsplatz aufzusuchen.

Außerdem gab die Bau-Projektleitung den Namen der neuen Adresse, „Hugo-Kirch­berg-Straße“, bekannt. Diverse Namensvorschläge waren in den Wochen zuvor aus dem Mitarbeiterkreis eingereicht worden. „Mr. Tesa“ Hugo Kirchberg fungierte – post mortem – während der gesamten Heldenreise als weiterer wichtiger Mentor: Mitte der Dreißigerjahre hatte sich der umtriebige Kaufmann von Thüringen aus auf den Weg nach Hamburg gemacht, um bei Beiersdorf das Klebebandgeschäft systematisch aufzubauen und zu internationalisieren. Dabei formulierte der „Tesa-Pionier“ einen Leitsatz, der bis in die Gegenwart gültig ist: „Ich glaube an die unbegrenzten Möglichkeiten der Selbstklebe-Technologie.“

(c) Tesa SE/Gunnar von der Geest

Abbildung: Tesa SE/Gunnar von der Geest; frei nach Joseph Campbell und Christopher Vogler

Dosierte Informationsgaben als ­„Elixiere“

Neben den 25 Multiplikatoren, die über den kompletten Change-Prozess hinweg eine wichtige Rolle spielten, nahm kurz vor der heißen Phase der Standortverlagerung eine weitere, ebenso große Mentoren-Gruppe ihre Tätigkeit auf: die Umzugskoordinatoren. Hauptsächlich rekrutiert aus dem Bereich der Team-Assistentinnen, standen sie für alle Dinge rund ums Ein- und Auspacken sowie Möblierungsfragen beratend zur Seite. „Eine vertraute Person aus dem unmittelbaren Arbeitsumfeld mit seinen Sorgen und Nöten zu konfrontieren, ist wesentlich effizienter, als eine Hotline anzurufen“, sagt Reinhart Martin.

Im Folgenden stellte Corporate Communications die „Elixiere“ zur Verfügung. Wenngleich Informationen nicht wahre Wunder wie ein Zaubertrank in einem kleinen gallischen Dorf bewirken können, erwiesen sich Newsletter (Print/Digital), zum Beispiel über das Konzept des neuen Betriebsrestaurants und die Einkaufsmöglichkeiten sowie Services in Norderstedt, und der 120-seitige Wegweiser als nützliche Mittel beim Zurechtfinden in der neuen Welt.

Im Juli 2015 bezog das Technologiezentrum mit 55 Mitarbeitern den Neubau, nachdem die Verlagerung der rund 90 Anlagen rund elf Monate gedauert hatte. 710 Kollegen des Headquarters machten sich im September 2015 auf die große Reise. Binnen drei Tagen wurden nach einem ausgeklügelten Logistik-Konzept die Kartons, Kleinmöbel und die  IT-Infrastruktur umgezogen. Das 280-köpfige Team aus der Forschung und Entwicklung, das unter anderem 3.000 Chemikalien sowie umfangreiches Labor-Equipment zu transportieren hatte, nahm plangemäß im Dezember 2015 seinen Betrieb auf.

Lob und Anerkennung zum ­Reiseende

Auch wenn jeder dieser drei Umzüge unter anderen Rahmenbedingungen ablief, so einte sie die Art des Ankommens: Im Rahmen kleiner Begrüßungsevents standen Vorstand und Geschäftsleitung am Eingang Spalier, um jeden Mitarbeiter mit einer Rose willkommen zu heißen. Viel Lob und Anerkennung für die erfolgreich bewältigte Heldenreise und das imposante Bauwerk gab es beim „Tag der offenen Tür“ im Mai 2016, zu dem Familienangehörige, „alte“ Beiersdorf-Kollegen und Norderstedter Nachbarn eingeladen worden waren. Knapp 3.000 Personen tummelten sich auf dem 56.000 Quadratmeter großen Areal.

Joseph Campbell hätte vermutlich viel Freude daran gehabt zu sehen, wie 1.000 Protagonisten ihre Ängste überwinden, Bewährungsproben bestehen, Schwellen überschreiten, sich auf Veränderungen einlassen und letztlich ihre Meisterprüfung ablegen. Nur eines hätte ihn vermutlich gewundert: Bei Camp­bell schließt sich am Ende der Kreis, die Helden kommen – reich an Erfahrungen und Erkenntnissen – als „bessere Menschen“ wieder am Ausgangspunkt an. Beim Tesa-Umzug ist dies anders: Die heldenhaften Kollegen müssen nie mehr in ihre alte Welt zurück …

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Die Heldenreise: Zwischen ­Lagerfeuer und Hollywood

Die Grundidee der Heldenreise stammt von Joseph Campbell (1904-1987). Der US-amerikanische Mythenforscher hatte im Rahmen umfangreicher Recherchen festgestellt, dass bei Naturvölkern „Lagerfeuer-Geschichten“ erzählt werden, die sowohl eine archetypische Situationsabfolge als auch ähnliche Charaktere und Symbole aufweisen. Solche Storys, die zwischen der alten und der neuen Welt spielen, erfüllten den Zweck, Erfahrungsschätze der Protagonisten weiterzugeben, den Zuhörern eine wichtige Lebens­orientierung zu bieten und auf diese Weise das soziale Miteinander zu regeln beziehungsweise zu stabilisieren. Stark beeinflusst von der Tiefenpsychologie Carl Gustav Jungs veröffentlichte Campbell 1949 das Buch „The Hero with a Thousand Faces“. Dieses behandelte erstmals detailliert das Motiv der Heldenreise, war zunächst aber nur einem kleinen Publikum bekannt.

Da eine Reise normalerweise zu Hause beginnt, heißt die erste Stufe: Gewohnte Welt. Es folgen gemäß klassischem Grundmuster: Ruf des Abenteuers, Verweigerung, Begegnung mit dem Mentor, Überschreiten der ers­ten Schwelle, Bewährungsproben, Vordringen in die tiefste Höhle, Entscheidungskampf, Belohnung, Rückweg, Hinwendung zur großen Veränderung und Rückkehr mit dem Elixier.

Christopher Vogler (geb. 1949) erkannte als einer der Ersten die Relevanz der Heldenreise für erfolgreiches Entertainment. In seinem Buch „The Writer’s Journey“ beschreibt er die Universalität von Erzählstrukturen und bezieht sich dabei wesentlich auf Campbells Studien. Vogler avancierte zu einem der weltweit gefragtesten Drehbuchautoren und Story Consultants, unter anderem beauftragt von Disneys Jeffrey Katzenberg („König der Löwen“). Heute fungiert Vogler als Leiter der Stoffentwicklungsabteilung von 20th Century Fox.

 

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