In U-Haft genommen

Sprecherspitze

Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Tag im U. Es war in der achten Klasse, als wir Schüler eines Morgens die Tische in Hufeisenform arrangiert vorfanden. Aus seiner Perspektive als einzelnes Ü-Pünktchen nickte der Lehrer uns selbstzufrieden zu. Adieu, Frontalunterricht! Endlich war Raum für Kommunikation, Aug’ in Aug’, mit nichts als Leere dazwischen und tausend Möglichkeiten, eng dialogisierend einzutauchen in Textaufgaben oder die konsonantische Konjugation.

Im Pausengespräch: „Wie findet ihr die neue Sitzordnung so?“ – „Scheiße natürlich“, war die einhellige Antwort. Denn: kein Spicken in der letzten Reihe, kein Tuscheln, verborgen in der anonymen Wohligkeit verteilter Pulte. Stattdessen: Spot on, immer präsent, stets die Maske eines wachen Blicks vor den vernebelten Teenager-Geist schiebend.

Ihre Erinnerungen zeichnen ein anderes Bild, liebe Leser? Nun sind Sie kommunikative Menschen und qua Beruf eher fünf Prozent zu extravertiert, wenn wir ehrlich sind.

Was zu Schulzeiten in den Neunzigern (damals noch ohne eigene Whatsapp-Gruppe für den Latein-LK) das unglückselige Hufeisen, ist heute auch in der internen Kommunikation das Grundprinzip. Es scheint, als kämen Unternehmen aus dem Pushen zum Pullen überhaupt nicht mehr heraus.

Omnipräsente Social Intranets führen nicht nur zu einer exponentiell wachsenden Informationsmenge, sondern enthalten auch eine schier manische Vernetzungs- und Positionierungsaufforderung. Wie siehst du das eigentlich? Input, bitte! Sich einbringen, austauschen, quer durch die Firma – bloß keine Silos. Das einstige Seniorensport-Gebot „Permanent aktiv bleiben“ hat sich in der Kommunikationskultur bis zum Archivmitarbeiter herumgesprochen.

Keine Gnade mit schweigenden Massen

Auch in Vollversammlungen lassen Fortschrittsunternehmen keine Gnade mit schweigenden Massen walten. Workshop-Charakter statt Frontalbelehrung, jeder soll seinen Senf dazugeben. So senkt das Management die Hemmschwelle, sich einzubringen. Das klingt gut. Heißt aber auch: Menschen, die zu einem Thema nichts zu sagen haben, werden aggressiv dazu ermuntert, sich eine Aussage abzuringen. Und das klingt schlecht.

Bei einem Mittelständler wurde kürzlich eine sogenannte „Schlaglicht-Runde“ eingeführt, in der jeder monatlich vor versammelter Mannschaft ein kurzes, bestenfalls amüsant-anekdotisches Statement zum derzeitigen Befinden und dem Stand seiner Arbeit abgeben sollte. Das führte zu glänzenden Augen und frenetischem Engagement aller Beteiligten … Reingefallen.

Es führte dazu, dass die Teilnahme um rund ein Drittel sank. Aus Unwillen oder Scheu, in einem grauen Konferenzraum gemeinsam Motivationsmantras zu brüllen, verzichtete mancher Mitarbeiter lieber ganz auf die dort vermittelten Informationen. „Ich wollte in meinem Job weder schreiben noch etwas mit Menschen machen“, stöhnte neulich ein befreundeter Programmierer. „Aber du kommst ja nicht mehr drum rum, Yammer und so …“

Die bittere Wahrheit: Nur Kommunikatoren mögen das U, Schlachtrufe und Querbeetvernetzung mit suspekten Spezies aus Nachbarbüros. Und Personaler vielleicht. Alle anderen freuen sich zuweilen über eine letzte Reihe, vielleicht auch, weil sie in Social-Media-Parallelwelten rund um die Uhr in der ersten sitzen.

Bitte haben Sie gelegentlich ein Herz für diese Kollegen. 

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe SPASS. Das Heft können Sie hier bestellen.

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