Warum der Aufstand tobt

Shitstorms verstehen

Eine Krankenkasse bildet auf einem Plakat ein junges Paar mit einem Ultraschallfoto ihres erwarteten Nachwuchses ab. Der Fehler: Der werdende Vater ist nicht hellhäutig – Shitstorm. Eine Drogeriemarktkette bildet zum Weltfrauentag ihr Zentaur-Logo mit einem Busen ab und verändert ihren Namen. Die dazu beworbenen Artikel entsprechen dem stereotypisch weiblichen Bedarf – Shitstorm. Kein Tag vergeht, ohne dass es zur Verbreitung von Hass und wilden Beschimpfungen im Netz kommt.

Wenn mehrere Menschen gleichzeitig eigene Weltsichten und Verhaltensweisen haben, dann entstehen aus ihnen eigene Kulturen. Solche Kulturen bergen besonderes Aufregepotenzial, weil ihre Ansichten ideologisch und moralisch aufgeladen sind. Dazwischen ist oft gar kein Platz mehr für andere Meinungen. Hinzu kommt, dass sich die Netzcommunity mittlerweile über Dinge aufregt, die lange Zeit kaum für Aufruhr sorgten. Shitstorms über vegane Produkte beispielsweise sind ein Zeichen dieses Wandels. Verändert hat sich auch, dass sich heute Vertreter des politisch rechten Randes lautstark mit wüsten Beschimpfungen immer dann melden, wenn es um ihre typischen Themen geht. Auch Geschlechterungleichheit führt immer noch zu Reaktionen. Diskussionen und Auseinandersetzungen im Netz bestärken die Kulturkämpfer noch. Da ist es ein kleiner Schritt zur Provokation.

Besonders beliebt für einen Shitstorm sind Verfehlungen von Prominenten, Unternehmen oder Institutionen, die eigentlich Vorbilder sein sollten. Durch das Internet können nun auch die bislang Machtlosen diesen Kreisen kollektiv die Meinung sagen.

Gleich und gleich gesellt sich gern

„Skandal!“ wird aus diesen Ecken schnell gerufen. Mit einem Shitstorm sind Beleidigungen, Verunglimpfungen und Bedrohungen verbunden. Die Angreifenden fühlen sich im Recht. Sie sind sich in ihrer sicheren, anonymen Forenwelt bei solchen Themen völlig einig. Sie bewegen sich im Internet und auch außerhalb in Meinungsblasen mit geringer Diversität. „Freunde“ mit anderer Meinung werden auf der privaten Profilseite ausgeblendet und Andersmeinende „entfreundet“.

Wenn sich jemand in einem Forum über Veganismus informieren will, so kommt er dort auch mit der Ideologie dieser Spezialkultur in Kontakt. Neben Ernährungsfragen wird Kritik an Jägern, Landwirten und unverantwortlichen Fleischessern geübt. In ähnlicher Weise gilt das für den rechten Rand: Hier will man ebenfalls die Gesellschaft verändern. Aus dieser Sicht kann es positive Meldungen wie „Asylbewerber findet Portemonnaie und gibt es bei der Polizei ab“ gar nicht geben; diese News müssen „gefakt“ sein.

Teilnehmer mit abweichenden Haltungen können sich in solchen Foren nur schwer behaupten oder sie werden sogar ausgeschlossen. Das kann in politischen Zielsetzungen begründet sein, es gibt hierfür aber auch eine soziale Regel, die Homophilie: Die Leute gesellen sich nur zu jenen, denen sie selbst ähnlich sind.

Was für Foren gilt, stimmt auch für die eigenen Profilseiten: Die Menschen kommen vor allem mit den Äußerungen ihrer engeren Freunde in Kontakt. Neuigkeiten von Facebook-Bekanntschaften, die man nicht beachtet, werden von Algorithmen herausgefiltert. Auf diese Weise entlasten die Algorithmen die Beteiligten; es wird nur für sie Wichtiges angezeigt. Das geht auf Kosten der Vielfalt.

Dabei dominieren wenige Aktive die Meldungen, was die Wahrnehmung der Meinungen im Bekanntenkreis verzerren kann. Der Eindruck und die tatsächlichen Haltungen unterscheiden sich dann voneinander. Das ist ein ähnlicher Effekt wie der von Elisabeth Noelle-Neumanns Schweigespirale: Die Kommunikationswissenschaftlerin fand heraus, dass Beteiligte lieber schweigen, als sich gegen Freunde und Bekannte zu stellen, denn sie wollen sozial nicht ausgeschlossen werden.

Unbändige Wut

Die kulturelle Abgeschlossenheit von Internetbereichen lässt bei den Akteuren den Eindruck entstehen, ihre eigene Weltsicht sei die einzig richtige. Dies zusammen mit der Dynamik während des Angriffs, den vorherigen Kommentar noch etwas übertrumpfen zu müssen, sorgt bereits für eine starke Aufladung. Hinzu kommt etwas, was in der Frühzeit der Forschung zur Internetkommunikation bereits eine große Rolle spielte. Obwohl man etwas beiträgt, bleibt man anonym; zudem ist das Opfer nicht aus Fleisch und Blut, sondern scheint als Institution oder Promi so weit weg von einem selbst zu sein, dass man Schwierigkeiten hat, sich in diejenigen auf der anderen Seite hineinzuversetzen. Eine Regulation durch einen fehlenden sofortigen Rückkanal bleibt also aus.

Durch die soziale Regel der Reziprozität – wie du mir, so ich dir – entsteht jedoch eine Eigendynamik gegenseitiger Schmähungen. Auf diese Weise greift der rüde Stil um sich und erfasst auch solche Personen, die sonst eine friedlichere Auseinandersetzung pflegen. Abmildern ist nun kaum möglich, denn die soziale Regel steht dagegen. Wenn man in der Lage ist, Personen zu finden, die gegenhalten, wird dem Sturm etwas der Schwung genommen. Wichtig ist es aber, nicht dem eigenen Impuls zu folgen und mit gleicher Münze heimzuzahlen. Einzig eine „Zivilisierung“ der Auseinandersetzung kann helfen: Sachlich bleiben und die Gegenargumente immer wieder vortragen. Das müsste einem Teil der Angreifer etwas Wind aus den Segeln nehmen – vor allem aber wird das auch bei den nicht aktiven Zuschauern ankommen können.

Wenige tragen viel bei

Manche Shitstorms sind organisiert – besonders aus dem rechten Lager. Dann tun sich wenige Personen zusammen und greifen einen Gegner mit zahlreichen Fake-Profilen an. Richtig massive Shitstorms beruhen aber nicht nur auf direkten Verabredungen, obgleich sie oft geschürt werden: So wird schon bei der Anklage eines Ereignisses „zur Arbeitserleichterung“ die Beschwerdeadresse angegeben. Interessierte bereiten den „Skandal“ so auf, dass er schnell über die eigene Profilseite weitergegeben werden kann. Anzettelungsversuche für Shitstorms kommen häufig vor, sind aber nicht immer erfolgreich. Es muss ein Nerv getroffen werden, damit sich die Kunde vom Skandal über den kleinen Kreis der Aktivisten hinaus verbreitet und zur Aktion herausfordert.

Im Shitstorm prallen unterschiedliche Kulturen aufeinander. Beiträge von Angreifern und Verteidigern unterscheiden sich dabei stark, was Inhalte und Begriff e betrifft, oft gilt das auch für Rechtschreibung und Grammatik.

Wenn der Sturm richtig heftig wird, kann es nützlich sein, eine breitere Öffentlichkeit zu suchen. Das gilt insbesondere, wenn die Kultur aus welcher der Angriff kommt, eine Minderheitenposition einnimmt. Unternehmen, die angegriffen wurden, finden in ihren Kunden häufig Verteidiger. Berühmt geworden ist das Beispiel der Ing-Diba-Bank, die durch eine Werbung mit Dirk Nowitzki in einer Metzgerei und der Übergabe einer Scheibe Wurst – „Damit du groß und stark wirst“ – den Zorn von Vegetariern und Veganern auf sich zog. Hier konnten sich die Vorwürfe in Unterstützung durch die eigenen Kunden ummünzen lassen, indem sich die Kunden zum Unternehmen bekannten. Die Kunden verteidigten also „ihre“ Bank.

Wie lassen sich Shitstorms ummünzen?

Ähnliches war auch bei dem Shitstorm auf den Hessenpark der Fall, nachdem in der Presse darüber berichtet wurde. Der Protest richtete sich gegen den freien Eintritt für Asylsuchende in das Freilichtmuseum. Bis allerdings die Gegenmacht formiert ist, dauert es eine Weile. Wenn die angeklagten Verfehlungen hingegen korrekt sind, hilft es, den Kunden und dem Protest so den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ein Hersteller von Fahrradschlössern, die sich mit einem Kugelschreiber knacken ließen, bot einen Umtausch an.

Ein Shitstorm dauert meist nicht lange und manchmal streiten sich die Protestierer auch noch untereinander, was deren Glaubwürdigkeit untergräbt, aber auch ein Zeichen für das Abflauen des Streits ist. Das heißt nicht, dass ein Shitstorm keine Zerstörung anrichten kann.

Ihm lassen sich manchmal aber auch positive Seiten abgewinnen, wenn etwa die Yellow Press einen geringen Protest zu einem Sturm aufbauscht und damit das Interesse an Stars und Sternchen am Köcheln hält. Die so errungene Aufmerksamkeit lässt sich dann womöglich noch in Prominenz und Werbeverträge eintauschen. Eine mit einem relativ schmalen Werbebudget initiierte Kampagne kann, wenn sie es schafft, damit einen Shitstorm auszulösen, „berühmt“ werden. Die Medien verstärken die Wahrnehmung zusätzlich. Auch wenn es zu einer Polarisierung kommen mag, werden auf diese Weise mehr Leute erreicht, die Marke gestärkt und Solidarisierungseffekte erzeugt.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe ALLES AUF ANFANG. Das Heft können Sie hier bestellen.