Radar statt Glaskugel: Die Zukunft der PR

Trendforschung

Frau Schleicher, Sie beschreiben sich selbst als Zukunftsenthusiastin, dabei gibt es heute so viele Skeptiker mit Blick auf morgen. Was macht Sie so hoffnungsfroh?
Theresa Schleicher: Es sind doch spannende Zeiten! Alles ist unberechenbar, aber genau darin liegen ja die Chancen, die Unternehmen noch viel zu wenig nutzen. Abzuwarten und Angst zu haben, ist schlecht fürs Geschäft.
Brauchen wir also einen Mind­shift vom Reagierer zum Agierer?
Unbedingt. Gerade in Berlin gibt es viele Start-ups, die erfolgreich sind, gerade weil sie anders denken: nämlich grundsätzlich positiv und agil, sie probieren einfach aus. Die Krux bei deutschen – und gerade großen – Unternehmen ist doch die Starre, alles dauert zu lange. Trends werden zwar gesehen, aber nicht genutzt.
Sind in Ihren Augen ­Strategie und die allseits propagierte ­Disruption Widersprüche?
Im Gegenteil: Sie sind eine der schönsten Symbiosen, die es gibt. Jedes Unternehmen, jede Branche sucht gerade nach Megatrends, die sie betreffen. Aber am Ende zählt nur zu sehen, wohin die Zukunft geht – und den Weg dorthin zu kennen.

Theresa Schleicher ist Seniorberaterin bei Vorn Strategy Consulting mit Sitz in Berlin. Zuvor arbeitete sie unter anderem beim Zukunftsinstitut, M&C Saatchi, Razorfish und Jung von Matt sowie im Marketing bei Random House London. (c) Julia Nimke

Theresa Schleicher leitet den Berlin-Standort von Vorn Strategy Consulting (c) Julia Nimke

Invent or die

Welche Megatrends sind aktuell wichtig?
Ich sehe da vor allem die Individualisierung. Handel und Banken haben das zum Beispiel verstanden, aber sie setzen es nicht konsequent um. Sie investieren zwar in digitalen Vertrieb, agieren im Kern aber nicht digital, also vernetzt und offen, die meisten denken nicht in Gemeinschaften. Natürlich sind auch Mobilität, Gesundheit, Nachhaltigkeit für alle Branchen relevant – und Digitalisierung schwebt über allem.
Beziehen Sie Individualisierung dabei auf den Kunden oder die Produkte?
Das eine bedingt das andere. Als Kunde habe ich individuelle Bedürfnisse und werde immer kritischer, ich will eine individuelle Ansprache, maßgeschneiderte Produkte und Kanäle und eine Arbeitsatmosphäre, die zu mir passt. Auf dieser Basis müssen Unternehmen ihre Strategien anpassen, sonst gilt: Invent or die.
Können Unternehmen ­Megatrends auch setzen?
Sie sind ihnen eher positiv ausgeliefert. Aber jeder Trend hat Vorreiter wie zum Beispiel bei den Themen Connected Cars oder Smart Home. Heute gilt mehr denn je: Langsamkeit ist ein unternehmerisches Risiko.
Woran erkennen Sie Trends?
Gerade läuft der Jahresendspurt und alle suchen ihre Vision 2020, da sind Branche und Unternehmensgröße erst einmal egal. Die Ungewissheit ist groß, welcher Megatrend wirklich relevant fürs eigene Unternehmen ist, weil das Thema nicht passt oder die interne Organisation die Entsprechung nicht hergibt.
Wir erstellen für unsere Kunden so genannte Trendradars. Das ist ein internes Steuerungs-Tool, bei dem es nicht nur darum geht, Trends auf verschiedenen Ebenen zu erkennen, sondern nutzbar zu machen, indem sie priorisiert, auf Relevanz geprüft und mit konkreten Handlungsempfehlungen versehen werden. Wir suchen international nach Innovationen und Best Cases zur Umsetzung von Megatrends und teilen sie in einem vielstufigen Verfahren so ein, dass der Kunde am Ende genau weiß, wie er sich strategisch aufstellen muss und was er umsetzen kann. Ein Trendradar wird idealerweise zeitgleich mit der Strategieplanung aufgesetzt und jährlich aktualisiert.
Ist Ihr Gegenstück in der ­Beratung oft der Kommunikator als Treiber von Innovation?
Es kommt auf die Trendbetrachtung an. Für alles braucht man vor allem die Unternehmensleitung, darunter sind es oft Innovations-, Strategie- oder IT-Abteilungen. Wer die Expertise mitbringt und an der Umsetzung beteiligt ist, gehört ins Orgateam auf Kundenseite. Das Trendradar ist da ja nur der Vorbote für agiles Arbeiten.
Das Bekanntmachen der Inhalte und Mitnehmen der Mitarbeiter ist ganz klar Kommunikationsaufgabe. Bei Multiprojekten und Schulungen ist die interne Kommunikation ganz wichtig, da sind cross-funktionale Teams gefragt. Die Entwicklung innovativer Produkte dauert schon mal ein, zwei Jahre vom ersten Design Thinking Workshop und Rapid Prototyping bis zur Kooperation mit Start-ups. Und der Trendreport mit den zehn wichtigsten Bereichen wird kommunikativ oft zur Eigen-PR genutzt und auf Events vorgestellt, um das Unternehmen als innovativ zu positionieren.
Welche Branchen liegen aus ­Ihrer Sicht schon vorn in Bezug auf Trends?
Traditionell ist der Handel nah am Kunden. Amazon, Zalando und Co. investieren viel Geld, um Dinge auszuprobieren. Einzelhändler hören zwar dauernd von Digitalisierung, aber springen zu spät auf und hecheln hinterher. Laut einer Prognose der Handelskammer werden 70 Prozent der Händler in Deutschland, die sich nicht umstellen, aussterben, und ich finde das nicht zu weit hergeholt.
Auch bei Versicherungen tut sich viel. Die Ergebnisse sind meist noch nicht sichtbar, aber dort läuft die Innovationsfindung bei manchen auf Hochtouren. Der mutigste Schritt ist immer, sich im Kern zu verändern, sich selbst eine digitale DNA zu verordnen, aber dafür brauche ich ein anderes Denken der Mitarbeiter, andere Strukturen und eine andere Organisation – und manchmal auch eine andere Führung.
Haben wir in zehn Jahren also verwaiste Innenstädte und ­schließen alle Einkaufszentren?
Amazon experimentiert bis Ende 2016 in den USA im Lebensmittelverkauf, das kommt auch nach Deutschland. Die entwickeln sich vom reinen Online-Shop zum Full-Service-Anbieter mit integrierten Konsumenten-Services und einer Lieferung innerhalb einer Stunde in Großstädten – aber eröffnen gleichzeitig stationäre Buchshops. Das ist ein Best Case aus der Megatrendfusion von Digitalisierung und Individualisierung. Und genau darum haben so viele andere Unternehmen Angst davor, unterzugehen.
Werden sie?
Nein. Man muss sich nicht komplett neu erfinden, nur seine Nische finden. Jeder muss kundenzentriert sein, aber das kann jeder für sich selbst übersetzen.
Ich höre seit Jahren, Print stirbt. Jeder Blick in einen Bahnhofs­kiosk einer auch nur mittelgro­ßen Stadt beweist uns das Gegenteil.

Die Renaissance des Lokalen

Welcher Trend hat Sie zuletzt ­bezaubert?
Die Renaissance des Lokalen. Jeder Trend erzeugt einen Gegentrend und die Globalisierung befeuert gleichzeitig das Lokale: Wir haben ein zunehmendes Bedürfnis nach Nähe und persönlichem Kontakt. Ein Beispiel ist die App Locafox, mit der Konsumenten einfach und schnell ihr Wunschprodukt in Geschäften in der näheren Umgebung finden. Das geht noch schneller als Amazon Prime.

Theresa Schleicher im INterview mit pressesprecher-Chefredakteurin Hilkka Zebothsen (c) Julia Nimke

Theresa Schleicher im Interview mit pressesprecher-Chefredakteurin Hilkka Zebothsen (c) Julia Nimke

Bei Minimal Viable ­Products ­werden Stakeholder zum ­Produktentwickler. Bleibt ­diese Form der Einflussnahme des Kunden ein Trend?Ja, user-generated ist genauso die Zukunft wie Koproduktion. Die Akzeptanz des Produkts ist hinterher viel größer, wenn der spätere Kunde es mitentwickelt hat. Ein gutes Beispiel ist die Plattform Jovoto, auf der Unternehmen offene Fragen zu ihren Produkten stellen und die Community direkt Feedback gibt. Aber je mehr Auswahl, desto größer auch die Überforderung. Darum werden kuratierende Services auf Basis von Kundendaten und -empfehlungen immer wichtiger.
Also müssen auch Kommuni­katoren ihr Selbstbild vom Sender zum Enabler ändern.
Genau. Auch der Sprecher muss ­kollaborieren nach innen und außen. Er muss Sprachrohr, aber vor allem Ohr sein. Der Kunde kommt heute nicht mehr zu dir, du musst auf ihn zugehen. Dasselbe gilt für künftige Mitarbeiter.
Welcher Trend hat Sie zuletzt überrascht?
Human Interfaces und Co. Natürlich ist Technologie grundsätzlich ein positiver Treiber. Aber ich habe das immer kritisch beäugt, weil mein Körper für mich ein Ruheort ist und uns die Datenflut ab einem bestimmten Punkt überfordert. Natürlich macht es einen Unterschied, ob ich mir ein entsprechendes Produkt umbinde oder implantiere. Aber Wearables sind auf dem Vormarsch, es gibt zum Beispiel heute zahlreiche Experimente mit Linsen für eine erweiterte Realität. Das wird sich durchsetzen, und damit habe ich nicht gerechnet.
Bitte beenden Sie den Satz: Der Sprecher 2017 muss unbedingt …
… einen Sprachassistenten haben. Wir beschäftigen uns gerade mit einer Studie zum Thema Audiokommunikation. Viele Audioplayer wie die Siris und Alexas dieser Welt sorgen ja schon für Dialog und bringen Inhalte zu mir. In der Zukunft habe ich einen Sprachassistenten auf dem Handy, im Kopfhörer, Wohnzimmer und TV-Gerät – und alle sind miteinander vernetzt. Ihnen gefällt das Outfit der Hauptdarstellerin Ihrer Lieblingsserie? Fragen Sie Ihren Fernseher und bestellen Sie es in Ihrer Größe. So machen wir das gesamte Umfeld ansprechbar.
Und worauf sollten Unternehmen unbedingt setzen?
Auf alles, was mit Smart Data zu tun hat, die Megatrends Digitalisierung und Individualisierung verbindet und die Datenflut für maßgeschneiderte Lösungen intelligent nutzt. Um am Ende die Ergebnisse als Open Data anderen zur Verfügung zu stellen.
Werden Menschen entlassen werden und Maschinen unsere Jobs übernehmen?

In Teilen ja, aber darum bin ich Zukunftsenthusiastin: Wir Menschen bringen Nähe und Emotionen mit, die in bewegten Zeiten besonders gefragt sind. Während Maschinen unsere Arbeit übernehmen, werden wir zu Kreativarbeitern.
Ich habe gestern zum Beispiel mit Spotify telefoniert, denen es wie vielen darum geht, Daten in Inhalte, Qualität und Kreation umzusetzen. Bisher fragten die: „Wo befindet sich ein Hörer und über welchen Kanal kommen wir da hin?“ Es ging also darum, Schnittstellen und Technik zu schaffen. Heute wird es wichtiger, welchen individuellen Content sie noch mehr anbieten müssen auf der Basis persönlicher Interessen.
Dann sollte der beste Freund des Kommunikators also der ­Controller sein?
Ja. Und der Analyst.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Streit. Das Heft können Sie hier bestellen.

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