„Menschen mögen Geschichten, die gut ausgehen“

Storytelling für Obdachlose

Herr Migut, der Verein Straßenblues engagiert sich für obdachlose Menschen. Inwiefern hat sich Ihre Arbeit durch die Coronakrise verändert?

Nikolas Migut: Früher haben wir viele soziale Aktionen gemacht, Geburtstage und Weihnachten gefeiert. Wir haben die Talente der Menschen gefördert, zum Beispiel Songs mit ihnen produziert oder Ausstellungen für ihre Fotos organisiert. Doch der erste Lockdown veränderte alles. Ich weiß noch, dass mich am 16. März 2020 gegen zehn Uhr jemand aus meinem Team anrief und sagte, er sei gerade in Hamburg unterwegs und sehe die Menschen auf der Straße richtig leiden. Die haben keine Spenden mehr, die können keine Pfandflaschen mehr sammeln. Alle Obdachlosen-Einrichtungen waren geschlossen. Wir müssen was tun, hat er gesagt.

Sie haben dann die „Corona-Straßenhilfe“ initiiert.

Genau. Wir sammelten innerhalb weniger Stunden über Crowdfunding Geld und schon am Nachmittag gaben wir die ersten von unserem Verein bereitgestellten 5.000 Euro in Form von 20-Euro-Spenden und Supermarkt-Gutscheinen an Menschen auf der Straße raus – unsere „Straßenspende“. Eine Woche später starteten wir die Aktion „Straßensuppe“, bei der wir täglich bis zu 100 Suppen verteilten. Wir haben also zum ersten Mal Grundversorgung gemacht. Später kam noch die Aktion „Hotels for Homeless“ hinzu, bei der wir obdachlose Menschen in angemieteten Unterkünften unterbringen.

Um all diese Aktionen zu finanzieren, sind Sie auf die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit angewiesen. Wie stellen Sie diese her?

Unser Verein hat seinen Ursprung in einer Reportage über Obdachlose, die ich 2012 für den NDR gedreht habe. Damals traf ich an der Berliner Bahnhofsmission Alex, den ich eine Nacht lang mit der Kamera begleitete. 2015 traf ich ihn wieder – nach zehn Jahren auf der Straße lebte er nun in einer Sozialwohnung. Wir haben dann gemeinsam mit einer anderen ehemaligen Obdachlosen das „Straßenbuch“ herausgebracht, das von der Zeit auf der Straße erzählt und in dem Alexʼ Gedichte abgedruckt sind …

Sie machen obdachlose Menschen also sichtbar.

Was wir machen, ist Social Storytelling. Wir glauben, dass wir durch das Erzählen von Geschichten Öffentlichkeit schaffen können – einfühlsam, nah dran, lösungsorientiert. Unser Ziel ist es, Empathie bei den Zuschauerinnen und Zuschauern zu wecken, sie zu berühren und so letztlich zum Helfen zu aktivieren. Es geht uns um Mitmenschlichkeit.

Sie haben Alex erwähnt. Er ist das Gesicht Ihres Vereins, sein Porträt prangt groß auf Ihrer Webseite und auf Ihren Social-Media-Kanälen. Warum hat er dem zugestimmt?

Alex wollte und will seine Geschichte erzählen. Bevor ich ihn in seiner Sozialwohnung besucht habe, sagte er mir am Telefon: „Bring deine Kamera mit!“ Die Wände seiner Ein-Zimmer-Wohnung waren tapeziert mit seinen Gedichten und Kurzgeschichten. Er stand da, rezitierte sie und ich filmte. An den Wänden hingen auch Screenshots von meinem Film über ihn. Er möchte diese Aufmerksamkeit, denn das ist eine Form der Wertschätzung, sie gibt ein gutes Gefühl.

Wertschätzung geben und Mitgefühl wecken – das heißt auch, bestimmte Dinge nicht zu erzählen. Eine Studie, die sich mit der medialen Selbstdarstellung obdachloser Menschen beschäftigte, kam zu dem Ergebnis, dass zum Beispiel Gewalterfahrungen oder Menschen mit geringen Deutschkenntnissen häufig ausgeblendet werden.

Wir wollen berichten, was ist, und nicht beschönigen. Das heißt, wir greifen auch negative oder vorbelastete Themen wie Sucht und Gewalt auf. Selbst Suizidgedanken würden wir nicht ausblenden – die Frage ist, wie man das erzählt. Menschen mögen Geschichten, die gut ausgehen. Also zeigen wir ein Problem und welche Lösungsansätze es für den konkreten Menschen oder für Obdachlosigkeit an sich gibt. Dass ein Großteil der obdachlosen Menschen in Hamburg und anderen Großstädten die deutsche Sprache nicht beherrscht, ist Realität. Auch das bilden wir ab – wie mit Andrzej, der im Winter aufgrund von Erfrierung seine Zehen verloren hat und durch unsere Mithilfe nun in einer Wohngemeinschaft lebt, auf unbefristete Zeit. Er spricht fast kein Deutsch, obwohl er seit zehn Jahren in Deutschland lebt. Wir haben mit ihm ein mehrere Minuten langes Video gedreht, das sehr still ist, aber nicht weniger berührend.

Ein anderes Video zeigt Jan, einen Obdachlosen, den Ihr Verein in einer Jugendherberge aufgenommen hat und der in dem Video offen über seine Heroinsucht spricht.

Jan erklärt sehr gut, warum er betteln geht, um seine Drogen zu finanzieren. Er ist ein Beispiel dafür, welchen Einfluss Storytelling hat – nicht nur auf den Zuschauenden, sondern auch auf den Betroffenen selbst. Als Jan einige Wochen später das Video gesehen hat, wurde ihm bewusst, dass er erstmals seit sehr langer Zeit wieder Zuneigung und Liebe erfahren hat und dass er sich verändern will. Er ist jetzt auf dem Weg, einen Entzug zu machen, und wir begleiten und unterstützen ihn. Das liegt allein an dem Video unserer „Straßenheldin“ Anke, die dieses Video für unseren Verein mit ihm gedreht hat.

Happy End? Jan lebte auf der Straße, bis der Verein Straßenblues ihm im Corona-Winter eine Unterkunft in einer Jugendherberge organisierte. Inzwischen hat er den Entschluss gefasst, sein Leben zu verändern. 

Die Videos, aber auch Fotos und Texte auf der Webseite des Vereins wirken sehr professionell. Sie selbst sind ein vielfach ausgezeichneter Journalist, kennen also Ihr Handwerk. Wie sieht es mit den anderen Ehrenamtlichen aus – werden die geschult?

Nein. Denn diejenigen, die Texte, Fotos und Videos produzieren und prüfen, sind ebenfalls Profis. Die Menschen in meinem Team kommen wie ich vom NDR oder vom Spiegel und von anderen Medien. Alles, was wir tun, begleiten wir medial. Dabei achten wir auf hohe Qualitätsstandards, denn Professionalität ist ein Schlüssel im Umgang mit den Medien. Über gut gemachte Fotos, Videos und Texte freuen sich die Redaktionen.

Und wie nehmen Sie die Berichterstattung über Wohnungslose in den Medien wahr?

Es gibt auf der einen Seite Journalistinnen und Journalisten, die tiefgründig recherchieren und gut berichten. Für die bin ich dankbar. Und es gibt Medien, die auf Effekthascherei setzen und das Thema zum Beispiel nur im Winter aufgreifen. Die handeln das Thema oberflächlich ab.

Was tun Sie, wenn ein:e Journalist:in mit einer bestimmten Haltung auf Sie zukommt?

Ich nehme diese Person mit auf die Straße und stelle ihr einen obdachlosen Menschen vor, der medienerfahren ist und seine Geschichte gut erzählen kann. Dann verliert sie sehr schnell die Agenda im Kopf, weil die Realität eine andere ist. Im besten Fall lernt die Person nicht nur einen obdachlosen Menschen kennen, sondern mehrere. Denn die Vielfalt auf der Straße ist groß. Manche haben ihr Leben einigermaßen im Griff, die haben eine bestimmte Routine, genug Geld, pflegen sich, die kommen richtig gut klar. Und es gibt andere, bei denen gar nichts geht, die am Abgrund stehen.

Ist es eigentlich schwierig, jemanden zu finden, der sich porträtieren lässt?

Teils, teils. Manche Menschen wie Alex wollen ihre Geschichte erzählen. Und manche wollen das nicht. Das müssen wir akzeptieren, klar. Obdachlosigkeit ist eine fragile Situation und manche wollen zum Beispiel nicht, dass Angehörige sie im Internet oder in den Medien sehen.

Wie geht es nun weiter mit der „Corona-Straßenhilfe“?

Wir sind jetzt an einem Punkt, an dem wir nicht mehr nur Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit für unsere Forderungen herstellen, sondern selbst zu Akteuren geworden sind. Wir sind gerade mit der lokalen Politik im Gespräch, um konkrete Veränderungen wie „Housing First Hamburg“ – eine bedingungslose Unterbringung von obdachlosen Menschen – umzusetzen. Ohne unsere Aktionen und Kampagnen während der Pandemie wäre das nicht möglich gewesen.

 

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