Mein Chef – mein Motivator und ­Therapeut?

Karriere

Deutschen Managern fehlt es an Führungskompetenz. Im internationalen Vergleich gelingt es ihnen nur mäßig, Visionen zu vermitteln, zu inspirieren und ihren Mitarbeitern glaubhaft zu machen, dass sie sich für deren Wohlbefinden interessieren. So lauten, grob zusammengefasst, Ergebnisse einer Studie der Unternehmensberatung Willis Tower Watson, die im Oktober veröffentlicht wurde. Abgefragt wurde dafür – natürlich – die Mitarbeitersicht. Die Soziologin, Philosophin und HR-Beraterin Regina Mahlmann schüttelt den Kopf über solche Umfragen. Diese Ergebnisse könne sie nicht stützen – und überhaupt: „Vor allem wird auf Führungskräfte eingedroschen, dabei ist deren Anforderungsprofil in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen.“ Mahlmann hat bereits 2012 den Ratgeber „Unternehmen in der Psychofalle“ veröffentlicht. Darin thematisiert sie die überfordernden Ansprüche an Chefs, für das Team Coach, Motivator und Therapeut zu sein, sowie eine voranschreitende Psychologisierung von Führung.

Pflichtenheft für Führungskräfte

Tatsächlich: Seminare und Fachbücher mit Titeln wie „Die Führungskraft als Coach“, „Ganzheitlich führen“, „Motivation. Instrumente zur Führung und Verführung“ scheinen Konjunktur zu haben. Die Soziologin hält diesen Trend, der die Bedeutung des Menschlichen sowie der emotionalen und sozialen Kompetenzen hervorhebt, auch für eine Folge der Befürchtungen gegenüber der Digitalen Transformation.

„Statt unternehmerisch kluger Personal- wird individuelle Persönlichkeitsentwicklung und subjektives Rundumwohl angestrebt“, schreibt Mahlmann in einem Aufsatz. Während Unternehmen die Wellness-Angebote stetig ausbauten und deren Führungsimplikationen in ihre Leitlinien integrierten, würden Führungskräfte, die all diesen Erwartungen nicht mehr standhalten können, schnell zum Sündenbock. „Ich votiere nicht dagegen, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem man sich wohlfühlen kann“, stellt die Soziologin im Gespräch klar. Problematisch sei aber, dass die Adressaten von Pflichten stets Führungskräfte seien und diese an einem nicht leistbaren Spektrum gemessen würden. „Sie sollen gesund, gerecht, empathisch, ganzheitlich, systemisch, agil, demokratisch, individualisierend, visionär und charismatisch führen. Zusätzlich ist es ihre Aufgabe, die digitale Architektur voranzutreiben und natürlich Ahnung von Tools und Designs zu haben. Der Imperativ ist enorm, der Anforderungskoffer hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stetig gefüllt – aber das kann kein Mensch leisten.“

Als Mitarbeiter habe man infolgedessen den Eindruck: „Das steht mir zu, das kann ich alles von meinem Chef einfordern.“ Darüber hinaus, argumentiert Mahlmann, eröffne das Verhätscheln und Psychologisieren gegenüber dem Mitarbeiter einen Widerspruch zum allerorts geforderten „Führen auf Augenhöhe“, da es verhindere, dass Resilienz und Selbstständigkeit aufgebaut würden.

Zu den neuen Forderungen von Mitarbeitern gehören nach Mahlmanns Beobachtung Gesundheitsangebote, ein offenes Ohr für private Belastungen und die Erwartung, vom Chef inspiriert und motiviert zu werden. Mahlmann hat es schon erlebt, dass sich in diesem Zusammenhang über zu wenig Engagement des Chefs beklagt wurde. Sie rät: „Ich würde den Mitarbeiter in einer solchen Situation bitten, konkret aufzuschreiben, was es bedürfte, seine Potenziale zu realisieren, und welchen Empowerment-Plan er sich dazu wünschen würde. In meiner Funktion als Führungskraft bin ich dafür verantwortlich, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass größtmögliche Potenzialentfaltung möglich ist. Dafür, dass der Mitarbeiter das auch tut, bin ich nicht verantwortlich.“

Verstehen statt psychologisieren

Eliza Manolagas, Communications Advisor bei der Bank ING-Diba, teilt Mahlmanns Eindruck eines komplexer werdenden Anforderungskatalogs. Allerdings bezweifelt sie, dass nur das Pflichtenheft von Führungskräften betroffen ist. „Durch die Digitalisierung und Internationalisierung sind die Herausforderungen für alle gewachsen – das trifft ja nicht nur die Chefs.“ Seit zwölf Jahren ist Manolagas im Unternehmen, seit fünf Jahren führt sie ein achtköpfiges Team.

„Ich glaube nicht, dass ein Chef ein Therapeut sein muss. Aber das ist vielleicht auch eine Typsache und eine Frage der allgemeinen Unternehmenskultur.“ Gute Führungskräftekommunikation sei in erster Linie persönliche Kommunikation. „Ich glaube schon, wenn man mit Menschen arbeitet, hilft es, ein Verständnis dafür zu haben, wie sie arbeiten und ticken. Das kennen wir ja aus der Kommunikation: Nur weil ich etwas sage, heißt das noch lange nicht, dass es so auch beim anderen ankommt.“ Menschen zusammenzubringen und zum Austausch zu bewegen, sei eine wichtige Aufgabe von Führungskräften, die auch durch Social Intranets und Kommunikations-Apps nicht ersetzt werden könne. „Ich arbeite mit Menschen zusammen – natürlich brauche ich ein ungefähres Verständnis davon, welche Gedanken und Erwartungen mein Gegenüber hat. Ein gewisses Einfühlungsvermögen ist da enorm wichtig.“

Genau mit diesem Begriff hat Soziologin Regina Mahlmann Schwierigkeiten. „Die Idee dahinter ist, dass man so fühlt wie der andere, sich in ihn hineinversetzt. Wenn ich das als Chef tue, habe ich allerdings keine Distanz mehr zu meinem Gegenüber. Und wenn ich die Distanz verliere, kann ich ihm nicht mehr helfen. Hinzu kommt, dass ich dann ausschließlich aus den Gefühlen des anderen heraus agiere und nicht im Sinne meiner eigenen professionellen Vorstellungen und meiner Rollenpflichten.“ Schließlich sei man ja nicht ausschließlich für die Menschenführung, sondern auch für Ergebnisse und Innovationen verantwortlich. Führen bedeutet in Mahlmanns Verständnis, immer auch kognitiven und mentalen Abstand zu halten. Zwar könne der Perspektivwechsel eine Technik sein, aber das solle dann intentional passieren, unter der Prämisse: „Welche Erkenntnisse kann ich daraus gewinnen, die mir in der Personalentwicklung helfen können?“

Erwartungen deutlich machen

Den Rollenbegriff grenzt Mahlmann ab vom Bild der ganzheitlichen Führung, das in verschiedenen Akademien, Fernstudiengängen und Coachings gelehrt wird. Nach Meinung der Beraterin ist das eine Mogelpackung. „Führungs- und Mitarbeiterfunktion unterscheiden sich nun einmal, es gibt verschiedene Kompetenzen und Befugnisse“, sagt Mahlmann. „Jeder spielt im Unternehmen eine bestimmte Rolle, nur dieser Teil von ihm ist gefragt. Darauf sollten wir wieder zurückkommen, anstatt den Anspruch zu haben, den anderen auch auf der Arbeit in all seinen Facetten verstehen und behandeln zu wollen.“ So müsse die Führungskraft deutlich machen, was der Mitarbeiter von ihr ihrer Rolle erwarten kann – und andersherum. Doch je freundschaftlicher die Verhältnisse zwischen Kollegen oder zwischen Führungskraft und Mitarbeiter werden, je offener Gespräche über private Belastungen und Sorgen, desto größer wird die Gefahr, dass sich jemand bei Klartext oder bei Aufträgen statt Bitten beleidigt zurückzieht.

Dennoch solle man dieses Risiko wagen. Wenn Unternehmen auf das Ganzheitlichkeitsbedürfnis eingingen, habe das zuweilen, ganz ohne intendierte Hidden Agenda, auch eine totalitäre Tendenz. „Plötzlich wird dann mit Hilfe von Gesundheits- und Wohlfühlangeboten des Unternehmens immer mehr von den Lebenswelten der Mitarbeiter eingesogen – nur damit diese sich dann am Ende beschweren: ‚Sie absorbieren mich!‘“

Die ING-Diba befindet sich gerade im Wandel, möchte in der Branche Digital Leader werden. Das verändert auch das Verständnis von Führung. In diesem Jahr wurde ein Programm für Führungskräfte gestartet, der „Navigator“, in dem neue Ziele erarbeitet werden. Diskutiert wird beispielsweise die Frage, ob eine Führungskraft, statt inhaltlicher Experte zu sein, künftig mehr der Koordinator sein sollte, der Vertrauen zu seinen Mitarbeitern haben muss. In ihrer Rolle überfordert fühlt sich Manolagas nicht. „Jeder hat mal das Gefühl, dass alles zu viel wird. Es liegt auch an einem selbst, wie viele Ansprüche man zulässt.“

Für den alltäglichen Umgang mit den Kollegen braucht man nicht zwingend Psychologen-Fachliteratur, findet Manolagas. Gesunder Menschenverstand und ein Gespür für den Umgang miteinander seien eine gute Basis. „Das war doch immer so: Wir arbeiten mit Menschen und nicht nur mit Systemen und Prozessen. Es gibt nicht für alles eine Matrix.“ Bei der ING-Diba gibt es mehr als 500 Führungskräfte aus allen Altersstufen. Manche führen, sagt Manolagas, mit mehr Nähe, andere mit Distanz, das sei eine Typfrage. Kommt es in ihrem Team zu kniffeligen Situationen, hilft es ihr, sich mit anderen Führungskräften auszutauschen. „Als Mensch öfter mal innezuhalten und die eigene Kommunikation und das eigene Verhalten zu hinterfragen, ist für mich noch sinnvoller, als ein psychologisches Handbuch ­durchzuarbeiten.“

Wie sollten Führungskräfte mit privaten Belastungen der ­Mitarbeiter umgehen? – Ein fiktives Fallbeispiel

Anna ist Teil eines fünfköpfigen Teams. Nach einem privaten Schicksalsschlag leidet sie unter der psychischen Belastung und ist am Arbeitsplatz nur eingeschränkt konzentrationsfähig. Zudem hat sie das Bedürfnis, mit den Kollegen, zu denen sie ein enges Verhältnis pflegt, und ihrer Chefin über ihre ­Situation zu sprechen, ihnen private Details zu erzählen. Wie sollte die Führungskraft damit und mit dem verbundenen Leistungs­abfall umgehen?

Regina Mahlmann: Ich würde in einem solchen Fall dazu raten, das weitere Vorgehen mit Annas Einverständnis im Team offen zu besprechen. Die Führungskraft könnte Anna bitten, selbst einzuschätzen, welche Aufgaben sie sich für einen eingegrenzten Zeitraum realistisch zutraut und welche Aufgaben von anderen übernommen werden sollten. So kann das Team konsensuell zu einer vorübergehenden Lösung kommen. Die Chefin sollte dabei auf der Leistungsebene bleiben und nicht versuchen, sich der Mitarbeiterin als „Quasi-Therapeutin“ zu nähern, um ihr die psychische Belastung zu nehmen. Sollte Anna ihre privaten Probleme weiterhin im Büro thematisieren, würde ich die Rollen noch einmal klar abgrenzen: „Liebe Anna, wir können dir bezüglich deines Arbeitsalltags für eine Zeit entgegenkommen, Aussprache bitte ich dich allerdings in deinen privaten Raum zu legen.“

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Streit. Das Heft können Sie hier bestellen.

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