Kampagnen in flüchtigen Zeiten

Schnelllebigkeit

Spätestens seit dem mehr als bloß anekdotischen Geplänkel zwischen dem Influencer Rezo und den Repräsentanten einer großen deutschen Volkspartei dürfte es klargeworden sein: Der Vollbesitz digitaler Medienkompetenz ist keine Frage der Form, sondern der, wie man inhaltlich damit umgeht und kommuni­ziert. In der Beherrschung des digitalen Idioms erweist sich, ob eine Marke, ein Unternehmen oder eine Orga­nisation bereits im Hier und Jetzt angekommen ist oder den Erfolgs- und Kommunikationsmustern der Vergangenheit anhängt.

Digitale Medienkompetenz ist für alle Organisa­tionen eine Art Wasserscheide. Sie beantwortet die Frage: „Bin ich bereits ein Atavismus oder besteht die Aussicht, auch morgen noch relevant zu sein?“ Dies trifft ausnahmslos auf alle Branchen und alle Berufs­bilder zu. Wer über Digitalisierung und die Logik der Netzökonomie spricht, sollte das Kind beim Namen nennen – es geht darum, Kommunikationsmöglich­keiten vollständig zu internalisieren. Was heißt das?

Wer schneller kommuniziert, entscheidet über die Agenda

Digitale Kompetenz ist keine äußerlich angeeig­nete Technik, sondern eine verinnerlichte Hal­tung. Kern dieser Haltung ist es, unmittelbar zu reagieren. Echtzeitkommunikation ist das neue Maß. Noch während das Ereignis eintritt, wird es bereits medialisiert. Die von der Außenwelt einge­forderte Reaktionszeit verkürzt dabei gleichzeitig die innere Reflexionszeit. Schneller denken ist hier das erste Postulat. Nur wer als Erster kommuniziert, setzt Thema und Agenda – alle Übrigen können dar­auf bloß noch reagieren. Wie heißt es so schön: The Winner takes it all.

„Digital or Die“ – der Zeitfaktor bleibt kritisch

Mit Ausnahme des Fernsehens absorbiert kein ande­res Medium so viel Aufmerksamkeit wie der digitale Raum. Eine kurze Fahrt mit der U-Bahn genügt, um feststellen zu können, dass der Screen in der Hand für die Mitreisenden ungleich interessanter ist als alles, was in der direkten Umgebung geschieht. Über die digitale Nabelschnur wird eine stetig wachsende Anzahl an Impulsen übermittelt: Informationen, Anfragen, Angebote, Unterhaltungsformate, Inter­aktionen. Die Menschen spüren einen kommunika­tiven Druck und sind gleichzeitig so bequem, dass der digitale Orbit partiell die unmittelbare Lebensreali­tät verdrängt. Wer digital nicht präsent ist, existiert im Bewusstsein der Außenwelt nicht. Der Abschied von klassischen Kommunikationsmitteln ist denk­bar brutal: „Digital or Die“ lautet der Titel einer Stu­die der Boston Consulting Group (BCG). Kurzum: Offline ist gleichbedeutend mit Inexistenz.

Außenwerbung, die klassische Printanzeige oder klassische PR-Formate wie Pressemitteilung oder Newsletter können bei dieser medialen Umwälzung kaum mithalten. Wenn eine Information nicht digital verwertbar ist, braucht man sich nicht mehr bemü­hen, sie zu vervielfältigen. Was bedeutet diese rasante Entwicklung für die Kommunikatoren, die in Unter­nehmen und Agenturen für Kampagnenführung und Pressearbeit verantwortlich sind? Haben sich das subjektive Zeitempfinden, die messbare Wirkung von Kampagnen verändert? Wir befragten hierzu Exper­ten aus Deutschland und Europa.

Schnelligkeit braucht langfristige Strategien

Wolfgang Kreuter, Kommunikationsberater aus dem schwedischen Göteborg, meint: „Heute geht es viel­fach um die digitalgetriebene Schnelligkeit bei Reak­tionen auf neue Meinungen oder Trends, oftmals auch auf Guerilla-Attacken aus einem globalisierten Konsumentenfeld. Die Digitalisierung hat Konzepti­onen und Taktiken von Kommunikationskampagnen in allen Bereichen grundlegend und unwiderruflich verändert.“ Die digitale Revolution sei ein Faktum, dem man sich stellen müsse.

Instagram und Influencerwerbung verändern Kampagnenzyklen und -formate. Das weiß auch Eberhard Grenz, der als Mediaplaner bei der Agen­tur Mostra in Brüssel für die Implementierung euro­paweiter Kampagnen zuständig ist. „Der Treiber ist aber nicht ausschließlich die Digitalisierung. Unsere Märkte sind seit langem saturiert, es geht nur noch in wenigen Sektoren um wirkliches Wachstum, son­dern häufiger lediglich um Marktanteile“, sagt er. Der Zeitrahmen sei deutlich verkürzt, die Taktung enger.

Die Digitalisierung schaffe eine völlig neue Kam­pagnenfähigkeit, die in der Schnelligkeit, Wucht und Reichweite der Kanäle liege, sagt der Leiter Kommu­nikation der diakonischen Einrichtung Karlshöhe in Ludwigsburg, Michael Handrick. „Merkfähigkeit und Relevanz hängen aber gleichzeitig von Branding­strategien ab, die langfristig gedacht sein müssen.“ Geschwindigkeit sei nur dann wirkungsvoll, wenn hinter dem Content eine strategische Idee stehe. Die aktuelle Kampagne von Rewe (Agentur Thjink) ist hierfür ein gutes Beispiel. Das globale Thema Nach­haltigkeit wird konkret aufgegriffen und vor Ort aus­gerollt. Lokale Marktleiter und regionale Lieferanten treten in einen Dialog miteinander, dem auch die Ver­braucher folgen können. Die Kernaussage „Gemein­sam für deine Region“ lässt sich zudem durch eine Vielzahl von Online-Impulsen und POS-Aktionen verstärken. Ob sich daraus Kaufanreize ergeben, muss sich erst noch zeigen.

Zwischen Impact und Indifferenz

Wie sieht der User diese stürmischen Entwicklun­gen im Kommunikationssektor? Zunächst ein paar Zahlen: Laut aktueller Studie der wirtschaftsnahen Initiative D21 besitzen 70 Prozent der deutschen Bevölkerung ein Smartphone. 83 Prozent der 20- bis 29-Jährigen sind auf Facebook aktiv, 42 Prozent der 14- bis 19-Jährigen bevorzugen Instagram. 90 Pro­zent der Teenager bezeichnen sich als Heavy User – sie nutzen oft über mehrere Stunden täglich Social-Media-Kanäle.

Je niedriger das Alter der Befragten, desto mehr Zeit verbringen sie im Netz. Social Media ist das popu­lärste Medium der jungen Generation. Wer digital nicht Flagge zeigt, ist im Bewusstsein der unter Zwan­zigjährigen nicht vorhanden. Zwar wissen Eltern sehr genau, wo sie Teenager heutzutage finden, im Zwei­felsfall stets vor ihrem Smartphone. Damit ist aber schon alles gesagt. Denn das Mindset eines Teenagers lässt sich nicht so ohne weiteres entschlüsseln.

Nutzer wollen Glaubwürdigkeit

Was Kampagnenmacher allerdings schmerzhaft erfahren, ist die Kollision im schmalen Korridor der Akzeptanz. Opportunistische Anbiederung wird sofort als solche entlarvt und erbarmungslos gebasht. Glaubwürdigkeit ist und bleibt der erste Schritt zur relevanten Aussage, ihre adäquate, möglichst epi­sche Darstellung kommt gleich als Nächstes. Katja Scholze, Geschäftsführerin Kreation bei der Berli­ner Digital-Agentur GUD, ist überzeugt: „Was uns Menschen seit jeher interessiert, sind Geschichten – große, gut erzählte Inhalte. Heute werden die Nut­zer zum aktiven Teil der Story, die sie selbst weiterer­zählen.“ Coca-Cola („The Coca-Cola Journey“) geht seit 2012 konsequent diesen Weg und bindet aktiv Verbraucher in die Kommunikation mit ein. Das geht so weit, dass mit der Kampagne „Shake to Design“ User die Markenästhetik von Fanta selbst mitgestal­ten können.

Alles auf Jetzt – gefährliche Lektionen des Populismus

Auch der direkte und brachiale Weg kann kommuni­kativ zielführend sein. Das zeigt Italiens rechtspo­pulistischer Innenminister Matteo Salvini – einer der umstrittensten Politiker Europas. 3,6 Millio­nen User folgen ihm auf Facebook, 1,5 Millionen auf Instagram und mehr als eine Million auf Twit­ter. Das sind europäische Rekordwerte. Zum Ver­gleich: 799.000 User folgen auf Twitter dem Brexiter und amtierenden Premierminister Boris Johnson, 2,3 Millionen der rechtskonservativen französi­schen Parteiführerin Marine Le Pen und 62 Milli­onen US-Präsident Donald Trump.

Salvini zählt zu den wenigen Politikern, die das radikale Kommunikationspotenzial der digita­len Zeitenwende früh erkannt und konsequent für ihre Zwecke instrumentalisiert haben. Social Media bündelt maximale Präsenz, Aktualität (Real Time), kurze Reaktionszeit und personalisierte Informa­tionen effizient und wandelt diese in interaktive Formate um. Dies geschieht nicht punktuell, son­dern in einem end- und grenzenlosen Datenstrom. Es gibt kein Davor und kein Danach, nur noch den alles überstrahlenden Moment. Dies kommt dem mystischen Zeitbegriff des Nunc stans (der Augen­blick ins Unendliche ausgedehnt) recht nahe. Das Momentane verdrängt vollständig sämtliche ande­ren Zeit- und Erlebnisformen; Erinnerungsvermö­gen ist eher störend.

Dr. Ester Saletta, Kultur- und Medienwissen­schaftlerin am Instituto Italiano di Studi Germa­nici in Rom, bemerkt zu diesem Kommunikati­onsphänomen: „Populisten wie Salvini verwenden Social Media, um die Massen so schnell wie mög­lich zu erreichen. Das gefällt den Leuten, da sie sich dadurch der Politik und ihren Akteuren näher glau­ben. Sie verstehen leider nicht, dass sie dabei völ­lig ausgenutzt und manipuliert werden.“ Zeitliche Unmittelbarkeit und Nahbarkeit lassen sich im digi­talen Raum perfekt simulieren und ökonomisieren, sei es beim Wähler oder beim Konsumenten.

Fazit: In der Digitaldominanz und ihrem enor­men zeitlichen Druck steckt eine Lehre für alle pro­fessionellen Kommunikatoren. Man kann nicht beides sein: populär und reflektiert; reichweiten­stark und selbstkritisch; direkt und dezent. Aller­dings kann man sich für das eine oder das andere entscheiden.

 

 

 

 

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe ZEIT. Das Heft können Sie hier bestellen.