Kampagne „Aus/Weg“: Mutig sein, um Mut zu machen

Deutscher Preis für Onlinekommunikation

Annette, Felicitas und Martina haben es geschafft. Die drei Frauen sind aus gewalttätigen Partnerschaften ausgebrochen und häuslicher Gewalt entflohen. Ihre Erfahrungen schildern sie in Video-Interviews auf der Webseite aus-weg.de, ihre Gesichter sind bundesweit auf Plakaten zu sehen. Sie sind Teil der Opferschutzkampagne „Aus/Weg“, die die Hamburger Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration gemeinsam mit der Werbeagentur Polycore im vergangenen Jahr entwickelt hat.

Die Kampagne will Frauen nicht als Opfer darstellen, sondern als Vorbilder. Dazu gingen die Macher ungewöhnliche Wege: Im Zuge einer Adbusting-Strategie kopierten sie die Werbesprache und -optik der Online-Partnervermittlung Parship („Alle elf Minuten verliebt sich ein Single über Parship“) und münzten sie auf den Claim „Alle fünf Minuten wird eine Frau Opfer häuslicher Gewalt“ um. Daneben kooperierten sie mit der Drogeriemarktkette Budnikowsky, die Budni-Tamponschachteln mit eingelegten Hilfsangeboten in den Verkauf stellte.

Die Motive der Opferschutzkampagne "Aus/Weg". (c) FHH / www.aus-weg.de

Die Plakatmotive der Opferschutz-Kampagne “Aus/Weg” waren bundesweit zu sehen. Klicken Sie auf das Bild, um die Galerie zu starten. (c) FHH / www.aus-weg.de

Ihm seien die Tränen gekommen, sagte Polycore-Agenturchef Joko Weykopf später über seine Präsentation der Kampagne vor der Jury des Deutschen Preises für Onlinekommunikation. Emotionen weckte die Kampagne auch beim Publikum: Mit ihren Motiven ging sie in den sozialen Netzwerken viral, bundesweit berichteten Medien über „Aus/Weg“. Und: Hunderte betroffene Frauen meldeten sich.

Die Kampagne überzeugte schließlich auch die dpok-Jury. Sie wurde in gleich zwei Kategorien ausgezeichnet: „Kampagne von Institutionen“ sowie „Disruptive Kampagne“. Im Anschluss der Preisverleihung sprachen wir mit Joko Weykopf und Marcel Schweitzer, Pressesprecher der Hamburger Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration.

Wie sind Sie auf die Idee zur Kampagne gekommen?

Marcel Schweitzer: Jedes Jahr findet der Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen statt. Und immer werden Bilder von geschlagenen und gedemütigten Frauen gezeigt. Wir wollten etwas anderes. Und die Agentur Polycore hat uns ein Angebot gemacht, das wir nicht ablehnen konnten.

Joko Weykopf: Wir wollten den Fokus nicht auf die Gewalt legen, sondern auf den Ausweg. Denn es gibt Beratungsstellen, die Frauen helfen können. Die Frage lautete: Wie schaffen wir es, dass Frauen diese Hilfsangebote annehmen? Unsere Lösung war klar: Es musste eine Ermutigungskampagne werden.

Sie haben für die Gestaltung der Plakatmotive die bekannte Parship-Bildsprache kopiert. Es ist schon ein sehr ungewöhnlicher Ansatz, Paarvermittlung und häusliche Gewalt zusammenzubringen. Wie kamen Sie darauf?

Weykopf: Es ging uns genau darum: ein aufmerksamkeitsstarkes Element zu finden. Unser Kampagnen-Budget war mit 40.000 Euro sehr begrenzt, deshalb brauchten wir einen Aufreger, der im Netz viral gehen würde. Als wir uns die Kriminalitätsstatistik anschauten, stellten wir fest, dass alle fünf Minuten eine Frau Opfer häuslicher Gewalt wird …

… was stark an den Parship-Claim „Alle elf Minuten verliebt sich ein Single“ erinnert …

Weykopf: … und da hat es „Klick“ gemacht. Wir wussten aber, dass wir nicht einfach nur den Claim von Parship klauen oder umbauen konnten, denn das hatte es schon gegeben. Wir mussten weitergehen, die Darstellung eins zu eins übernehmen. Also sprachen wir Parship an und sie stimmten zu. Natürlich machten sie sich auch Sorgen um ihre Marke, aber das Thema war ihnen wichtig. Ich glaube, letztendlich hat die Gesamtarchitektur der Kampagne nur deswegen funktioniert, weil sich alle – auch die Drogeriemarktkette Budnikowsky, die uns ebenfalls unterstützt hat, sowie unser Auftraggeber – zurückgenommen und die Botschaft in den Vordergrund gestellt haben.

Herr Schweitzer, hatte die Behörde bei der Vorstellung dieser Kampagne keine Bedenken?

Schweitzer: Doch. Polycore hat uns eine sehr mutige Kampagne vorgeschlagen. Allein für die Adbusting-Strategie haben wir die Rechtsabteilung konsultiert. Wir waren das erste Ministerium in Deutschland, das so etwas gemacht hat. Aber wir alle – auch die privaten Partner – haben uns zugunsten der Botschaft zurückgenommen. Als Stadt Hamburg haben wir zum Beispiel auf unser Corporate Design verzichtet. Jede Stadtkampagne ist verpflichtet, bei Plakaten bestimmte Elemente einzubringen. Doch die Agentur sagte deutlich, wir müssten darauf verzichten, sonst würde die Kampagne nicht funktionieren. Am Ende gab der Bürgermeister seine Zustimmung. Das war eine historische Ausnahme.

Die Protagonistinnen Ihrer Kampagne sind keine Models mit fiktiven Geschichten, sondern Frauen, die häusliche Gewalt selbst erfahren haben. Wie haben Sie sie dazu bewogen, so offen über ihre Erlebnisse zu sprechen?

Weykopf: Wir haben die drei Frauen über eine Ausstellung von Annette Schiffmann, die Frauen mit Gewalterfahrungen porträtiert hat, gefunden. Weil sie ihre Erfahrungen bereits öffentlich gemacht hatten, mussten wir sie nicht erst überzeugen. Ihnen war es wichtig, ihre Erfahrungen zu teilen. Denn es geht darum, betroffenen Frauen zu zeigen, dass ein Ausweg möglich ist. Die Entscheidung, Hilfsangebote anzunehmen, liegt allein bei der betroffenen Frau. Doch eine Kampagne kann sie ermutigen.

Schweitzer: Das traf genau den Kern unseres Problems: Jede Frau weiß, dass es Frauenhäuser gibt. Aber es gibt viele, die den Mut noch nicht haben, die Hilfe anzunehmen. Der Auftrag für diese Kampagne lautete, einen Weg zu finden, diese Frauen zu ermutigen. Und das hat sie.

Dafür wurde sie nun auch ausgezeichnet: Beim Deutschen Preis für Onlinekommunikation gewann sie in gleich zwei Kategorien. Wo werden die Trophäen stehen?

Weykopf: Die Preise gehen beide an die Behörde …

Schweitzer: Nein, wir werden sie fair aufteilen.