Das Medienhaus der Zukunft

Strategie

Die Digitalisierung verändert alle Bereiche des Lebens – und zwar schneller und radikaler, als viele Experten, Politiker und auch Journalisten es erwarten. Der Grund: die exponentielle Leistungszunahme der IT.

Vereinfacht gesagt, verdoppelt sich alle zwei Jahre die Geschwindigkeit der Computer. Dieser Effekt – nach dem Mitbegründer von Intel auch „Moores Gesetz“ genannt – ist der wahre Grund für den Innovationsschub der vergangenen zehn Jahre. Smartphones und KI-gesteuerte Sprachassistenten, der 3D-Druck und die Robotik, intelligente Algorithmen und Big Data, das Internet der Dinge und 5G-Netze, datenbasierte Geschäftsmodelle und digitale Services – alles das ist nicht denkbar ohne immer schnellere Computerchips. Nie wieder wird die Digitalisierung so langsam sein wie heute.

Intuitiv haben die Verbraucher diese fünfte industrielle Revolution längst antizipiert. In wenigen Jahren hat sich ein neuer Typus herausgebildet, der sich am treffendsten als „Instant Consumer“ bezeichnen lässt. Seine Ansprüche stellen alle Anbieter von Waren, Dienstleistungen und Informationen vor neue Herausforderungen. Der „Instant Consumer“ fordert Zugriff auf das gesamte Angebot, in Echtzeit, an jedem Ort und hochpersonalisiert. Der alte Tausch „Geld und Zeit gegen Produkt“ funktioniert nicht mehr. Der Deal der Zukunft heißt: „Überlegener Service gegen Daten und Vertrauen“.

Alles, sofort und überall

An dieses Leistungslevel gewöhnt sich der Verbraucher durch kundenzentrierte Anbieter wie Amazon zunehmend. Wie sich die ehrwürdige Washington Post zu einem datengetriebenen Verlagshaus wandelt, ist deshalb eines der spannendsten Medienprojekte weltweit. Sie wurde vor einigen Jahren von Amazon-Gründer und Multimilliardär Jeff Bezos übernommen. Die Washington Post befindet sich auf dem einzig gangbaren Weg, mit dem Verlage den kulturellen und technologischen Schritt von „paper-based“ zu „data-based“, von produkt- zu serviceorientiert, vollziehen können. Ihr Mittel: intelligente Algorithmen.

Medienhäuser werden in der 5.0-Welt nur überleben, wenn sie ihre Beziehungen zu den Menschen neu definieren. Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender der Axel Springer SE, hat das verstanden. Vier Fünftel des Konzerngewinns stammen mittlerweile aus Digitalgeschäften, wovon der Löwenanteil auf Stellen- und Immobilienanzeigen entfällt. Zu Springer gehören einerseits schnöde „Location Based Services“, die Angebote des lokalen Einzelhandels abhängig von Ort und Zeit auf die Smartphones der Konsumenten bringen, aber auch der intelligente Aggregator Upday für Android-Smartphones, der den Nutzern personalisierte Informationen aus 3.500 Nachrichtenquellen im Web zugänglich macht.

Die vier C des digitalen Verlagsgeschäfts

Mit seiner Digitalstrategie befindet sich Springer auf dem richtigen Weg, denn Verlagshäuser müssen ihre Beziehungen zu den Mediennutzern in vier Dimensionen neu definieren:

1. Contact

Die Verlage gewinnen das Vertrauen der Kunden und erhalten im Gegenzug deren persönliche Daten. Sie können die Informationsbedürfnisse und Vorlieben der Nutzer analysieren – sowohl in Bezug auf redaktionelle Inhalte als auch mit Blick auf werberelevante Informationen. Diese Kundenbeziehung lebendig zu halten, ist eine große, permanente Aufgabe. Der Nutzer darf nicht durch ungewollte Informationen und schon gar nicht durch missliebige Werbung vergrault werden.

Das Motto lautet: „Ich weiß, wer du bist und was du willst – und habe die Erlaubnis, mit dir zu kommunizieren.“

2. Content

Inhalte sollten differenziert betrachtet werden. Einerseits geht es um exklusive, tief recherchierte redaktionelle Inhalte, andererseits um aggregierte Informationen aus dem Netz. Beides sollte immer im Zusammenhang stehen. Die Medienhäuser müssen unterscheiden lernen, für welche Themen ein Nutzer wirklich brennt, welche für ihn im Alltag nützlich sind und welche ihn nicht interessieren.

Das Mantra:„Ich kenne deine Daten und liefere dir nur Informationen, die für dich relevant sind.“

3. Context

Diese Dimension haben die Medien noch nicht erfasst. Sie können viel vom digitalisierten Einzelhandel lernen, dessen innovativste Vertreter längst explizite Kundendaten und implizite Informationen aus den sozialen Medien zusammenführen. Information muss in Zukunft auf die konkrete Situation, in der sich ein Mensch befindet, zugeschnitten sein. Wo befindet er sich? Wie und wohin bewegt er sich? Zu welcher Uhrzeit? Wie ist das Wetter? Ist er allein unterwegs oder mit der Familie?

Vereinfacht gesagt: „Ich weiß, wo du bist, und interpretiere deine jeweiligen Informationsbedürfnisse in Echtzeit.“

4. Community

Das Internet of Things mit seinen Devices, Wearables und KI-Assistenten generiert einen endlosen Kreislauf aus Daten und wird geprägt vom Tausch persönlicher Daten gegen Service. Das ist die Basis der Geschäftsmodelle der Zukunft. In dieser dicht vernetzten Welt müssen sich Verlage positionieren, zum Beispiel über ihre publizistische und ideelle Linie. Damit binden sie Nutzergruppen an sich. In diesem beständigen Austausch werden die Grenzen zwischen Redaktion und Werbung, unabhängiger und interessengeleiteter Information noch diffuser verlaufen als heute schon. Letztlich wird der Kunde entscheiden, welchen persönlichen Mix er bevorzugt.

Für Verlage und Nutzer gilt: „Wir bilden eine Gemeinschaft von Interessen-, Werten- und Markenbotschaftern.“

Kommt eine Zweiteilung des Medienmarkts?

Die Wertschöpfung der Medienhäuser bewegt sich weg von Produkten und Formaten hin zu Daten, Software und Services, die primär das „Internet der Dinge“ liefert. Das Smartphone, Wearables wie intelligente Uhren oder auch Brillen, KI-getriebene Sprachassistenten, digitale Plakatwände sowie die Audio- und Videosysteme der Autos werden als Distributionskanäle an Bedeutung deutlich zunehmen. Eine gedruckte Zeitung oder Zeitschrift kann deren Servicelevel niemals bieten. Technologie und Datenkompetenz avancieren zu entscheidenden Erfolgsfaktoren.

Die Rolle der Medien wird sich in diesem Prozess dramatisch verändern. Nicht ausgeschlossen ist, dass sich der Markt zweiteilen wird: in investigative Powerhäuser, die exklusiven, relevanten Content produzieren auf der einen Seite, sowie in Distributoren, die in Echtzeit mittels Analytics und KI individualisierte Informationsangebote für die Verbraucher aggregieren, auf der anderen Seite.

Wollen die Verlage zwischen diesen beiden Polen nicht zerrieben werden, müssen sie sich positionieren. Sonst werden sie zum Opfer von disruptiven sozialen Newsaggregatoren wie dem US-Service Reddit. Dieser in Deutschland noch nicht so populäre Dienst gehört übrigens mehrheitlich der Mediengruppe Advance Publications. Kern des New Yorker Unternehmens ist der renommierte Verlag Condé Nast mit Zeitschriften wie Vogue und Vanity Fair. Gleichzeitig gehört zu Advance ein cloudbasierter Anbieter für analytische Intelligenz und Customer Insights sowie eine Agentur für digitales Marketing.

Die gute Nachricht eines solchen Kompetenzmixes: Eine klare publizistische Positionierung bleibt ein entscheidender Differenzierungsfaktor in einer dicht vernetzten, transparenten Welt. Ja, sie wird sogar wichtiger denn je, um sich von der im Web allgegenwärtigen Konkurrenz abzusetzen.

Condé Nast jedenfalls pflegt hingebungsvoll seine Rolle als Taktgeber für den globalen Lifestyle. Und Jeff Bezos’ Washington Post stellte ihrem Qualitätsjournalismus und datenbasierten Vertriebsmodell kurz nach dem Wahlsieg von Donald Trump eine pointierte und weltweit wahrnehmbare Warnung zur Seite: „Democracy Dies in Darkness.“ Ein kluger Schachzug – auch angesichts der Flut von Fake News und Hate Speech in den sozialen Medien.

++ Lesen Sie auch: Medienkrise – ist die Zahlungsbereitschaft der Leser ausgereizt? ++

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe SPASS. Das Heft können Sie hier bestellen.

Weitere Artikel