Im Schland der Vollpfosten

Je nach Untersuchung gibt es im Deutschen zwischen 300.000 und 500.000 Wörter. Sie alle machen unsere Sprache aus. Doch es gibt nicht die EINE Sprache – sondern so viele, wie es Menschen gibt.

S wie Sinnlichkeit

Mein Lieblingswort ist „Habseligkeiten“. Natürlich weiß ich, dass Dinge nicht glücklich machen, und der laut Definition „letzte Besitz des Opfers einer Katastrophe“ verheißt wenig Seliges. Doch dieses Wort steht auch für Hoffnung und stammt ursprünglich von „Habsal“ ab, also der Gesamtheit dessen, was jemand besitzt. 2004 war „Habseligkeiten“ sogar das „schönste deutsche Wort“ (auf Platz 5 landete damals übrigens „Rhabarbermarmelade“…).

Sprache ist sinnlich. Der US-Linguist und Anthropologe Edward Sapir definierte sie 1921 so: „Sprache ist eine ausschließlich dem Menschen eigene, nicht im Instinkt wurzelnde Methode zur Übermittlung von Gedanken, Gefühlen und Wünschen mittels eines Systems von frei geschaffenen Symbolen.“

Gedanken, Gefühle, Wünsche – Sprache öffnet eine Tür im Kopf, im besten Fall die zu einem ganzen Kopfkino-Universum. Je nach den Erfahrungen von Sender und Empfänger der sprachlichen Signale und ihren ganz persönlichen Konnotationen entsteht unterbewusst ein Bild in uns und wir zeigen sogar wortlos die entsprechenden körperlichen Reaktionen.

Darüber hinaus entsteht über Sprache eine Bindung zwischen den Kommunikationsbeteiligten: Woran denken wir bei den Worten „Seide“, „Liebe“ oder „Steuerprüfung“? Wir sprechen über das neue edle Kleid oder die Probleme der französischen Raupenzucht in Alessandro Bariccos gleichnamigem Roman. Den letzten Sex oder das romantische Konzept im Mittelalter. Den aus der Rückzahlung finanzierten Kurzurlaub oder einen geplanten Banküberfall. Und manchmal kommunizieren wir einfach nur souverän aneinander vorbei. Doch kann nicht gerade die Wort-Losigkeit sinnlich sein?

P wie Publikum

Sprache formt unsere Persönlichkeit ebenso, wie sie ihr Ausdruck ist. Für die meisten von uns war das Tor zum Sprachuniversum „Mama“. Auch international klingen die Bezeichnungen für die eigene Mutter ganz ähnlich wie zum Beispiel in Italien („Mamma“), Amerika („Mum“) oder der Türkei („Ana“). Der hiesige Doppellaut ist statistisch das erste Wort des Durchschnittsdeutschen und der sagt es meistens unbewusst. Erst die Reaktion lässt ihn erkennen, dass hinter „Mama“ Sinn und Bezug stecken.

Laut Friedemann Schulz von Thuns Kommunikationsquadrat enthält jede unserer Botschaften vier Anteile: Die Sachinformation und Selbstkundgabe, den Beziehungshinweis und den Appell. Der Haken: Die Äußerung aus meinen vier Schnäbeln trifft auf die vier Ohren des Empfängers. Es ist höhere Mathematik, auszurechnen, wie viel zwischen Schnäbeln und Ohren schief laufen kann. Auf welchem Ihrer Ohren stellen Sie sich am häufigsten taub?

R wie Relevanz

Die größte Sammlung aller deutschen Wörter ist der Duden. Doch wie kommt eines hinein?

„Der Großteil der neuen Wörter wird in zwei Schritten ermittelt“, erklärt Nicole Weiffen, Leiterin der Abteilung Presse und Unternehmenskommunikation beim Dudenverlag. „Das Herzstück sind die Computerprogramme, die vollautomatisch Zeitungen, Zeitschriften, das Internet, Bücher, Blogs und Portale nach neuen Begriffen durchkämmen.“ Wenn einer besonders häufig vorkommt wie zum Beispiel „Vollpfosten“ oder „Schuldenbremse“, kommt der Mensch erneut ins Spiel: „Unsere Redakteure, die alle Sprachwissenschaftler sind, prüfen dann einzeln, ob der Begriff nicht nur besonders oft vorkommt, sondern auch, ob er das nachhaltig und über verschiedene Kanäle hinweg tut“, so Weiffen.

Die Sprachwissenschaftler schauen jedoch nicht nur, ob Begriffe neu sind, sondern auch, ob sich ihre Konnotation positiv oder negativ ändert. Das Adjektiv „geil“ ist zum Beispiel über die Jahre immer weniger sexuell geprägt und heute längst Teil der Umgangssprache. Wenn Sie Ihr persönliches Wort mit der größten Relevanz des Tages wählen müssten – welches wäre das?

A wie Authentizität

Da steht es nun, das Lieblingswort so vieler PRler. Das böse A-Wort, das inzwischen geradezu inflationär gebraucht wird, um Marken zu inszenieren und Personen zu Persönlichkeiten zu pimpen. Und das in Wahrheit oft genug nur ein Euphemismus ist für „schlecht erzogen“, „nervig“ oder „unsichtbar gescriptet“.

Im Umgang mit dem Begriff Authentizität wäre ein zweites wünschenswert: Ambiguitätstoleranz. Es ist das Lieblingswort von Duden-Sprecherin Nicole Weiffen. Und steht für etwas, das sie sich im Alltag öfter wünscht, nämlich die Fähigkeit, mit der Anspannung in unklaren Situationen umgehen zu können. So unklar wie zum Beispiel die Sprachen verschiedener Generationen: Vielfach verstehen ältere Menschen heute Teenager in der U-Bahn kaum, wenn die mit Gleichaltrigen kommunizieren. „Doch Jugendliche passen ihre Sprache der Gelegenheit individuell an, je nachdem, ob sie mit Freunden sprechen, der Familie oder in einem Bewerbungsgespräch sitzen“, beruhigt Weiffen. „Sie sind sozusagen kontextabhängig mehrsprachig, auch wenn sie nur Deutsch sprechen.“

Wirklich authentisch sind die in den vergangenen Wochen am häufigsten bei der Duden-Redaktion nachgefragten Wörter: „Schland“ und „Freistoßspray“. Der WM sei Dank. Welches Wort haben Sie zuletzt gegoogelt – und warum?

C wie Curiosum

Wer fragt, der führt. Wer schreibt, der bleibt. Schreiben kann jeder, texten muss man lernen.

Sprache erschafft Zugehörigkeit. Oder auch nicht. Wenn der Leitende Notarzt bei einer Großschadenslage zum Kollegen kommuniziert, „wir haben hier einen 3. Alarm nach VU mit PKL und die ZP1 ist mit VdT und RTHub IK“, versteht sein OrgL (sprich: Organisationsleiter der Feuerwehr), was gemeint ist. Doch Lieschen Müller, die abends vor dem Fernseher sitzt und brennende Autowracks sieht, weiß nicht, dass bei dem Großeinsatz nach einem Verkehrsunfall (=VU) mit eingeklemmten Personen (PKL=“Person klemmt“) der Verursacher vermutlich betrunken (VdT=„Verdacht der Trunkenheit“) war und per Helikopter (=RTHub) in die nächste Klinik („IK“) geflogen werden musste.

Wer Sprache beruflich nutzt, muss sie kennen, sonst betrügt er. Und gute Sprecher müssen Sprachwandler sein, denn ihr Wurm muss nicht dem Angler schmecken sondern dem Fisch. Doch was kann der Fisch wissen über Customer Journey, User Experience Design, Agenda-Cutting und Zero-based-Budgeting, ohne bei einer Frontanpassung für mehr Synergieeffekte und einen besseren Image-Transfer selbst zum verhaltensoriginellen Desinvestitionskandidaten zu werden? Hand aufs Herz: verstehen Sie immer, wovon Sie sprechen?

H wie Haltung

Diesen Text schrieb ein Mensch. Dabei ist der sogenannte „Roboterjournalismus“ längst auf dem Vormarsch und Nachrichten entstehen aus Algorithmen, Reporter werden durch intelligente Datenbanken ersetzt. Auch das ist ein Zeichen der Weiterentwicklung von Sprache. So „schreibt“ der „Quakebot“ der „LA Times“ beinahe in Echtzeit und vermeldet Erdbeben. „Quill“ erstellt für „Forbes“ Börsen- und Finanzberichte. Und auf der Plattform mit dem sprechenden Namen „Word-
smith“ werden Magazinen Sportberichte zur Verfügung gestellt, die aus Statistiken generiert sind.

Kollege Computer ist niemals krank, kennt keinen Feierabend und rentiert sich auch für kleine Zielgruppen. Doch wollen wir, dass künftig Programmierer darüber entscheiden, was wir wissen?

Der Medienwissenschaftler Christer Clerwall von der schwedischen Universität in Karlstad ließ seine Studenten gleichlange Spielberichte von US-Baseballpartien lesen, die verdeckt von einem Sportredakteur oder einem Schreibroboter erstellt wurden. Das Ergebnis: Die Studenten konnten nicht unterscheiden, ob der Autor menschlich war und viele fanden den Robotertext objektiver. Wonach würden Sie den Computerlinguisten auswählen, der künftig Ihren persönlichen Nachrichtenstrom programmiert?

E wie Erbe

Schon vor mehr als 300.000 Jahren konnten die Vorfahren der Neandertaler sprechen. Das fanden Forscher in Durham heraus. Doch wie sprachen die Urmenschen? Und worüber? Lange vor Power-Riegeln und Zentralheizung ging es halt um Mammuts und Feuerstellen. Doch vermutlich war der Zweck von Sprache damals schon derselbe wie heute: Informa-
tionsaustausch und Zugehörigkeit.

Laut der National Geographic Society gibt es aktuell etwa 6.500 bis 7.000 Sprachen, darunter so für uns exotische wie Asturianu (wird im Norden Spaniens gesprochen) und Bamanankan (aus Westafrika), Volapük (eine deutsch-englisch-französisch-italienisch-spanisch-russische Plansprache) oder Wolof (eine Untergruppe der Niger-Kongo-Sprachen). Doch die Hälfte aller Sprachen ist inzwischen vom Aussterben bedroht.

Auch aus dem Duden verschwinden Worte: „Wir sind konservativ“, sagt Nicole Weiffen. „Dazu muss es schon sehr lange aus dem Sprachgebrauch verschwunden sein. Bei der letzten Neuauflage haben wir gerade einmal hundert Wörter gestrichen wie ‚Buschklepper‘ für einen sich im Gebüsch versteckenden Dieb, ‚Stickhusten‘ für Keuchhusten oder ‚Füsilade‘ für die standrechtliche Erschießung von Soldaten.“

Meine 13-jährige Nichte kennt keine „Habseligkeiten“, die spielen in ihrer Sprachwelt keine Rolle. Keine Katastrophen in ihrem oder meinem Leben. Und die wenigen in ihrem Umfeld, die von denen der Vergangenheit künden könnten, schweigen. Sie sind sprach-los, zumindest in diesem Punkt. Das Lieblingswort des coolsten aller Mädchen ist daher ganz einfach: „Ja“. 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Sprache. Das Heft können Sie hier bestellen.

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