Ihr seid doch krank!

Glosse über erkältete Kollegen

Wenn Sie diese Zeilen lesen, bin ich vielleicht schon infiziert. Zarter Schnee pudert das Dach der Kirche gegenüber und auch in unseren Räumen verbreitet sie ihren ganz eigenen Charme, die wundersame Winterwelt. Unser Verlag gleicht einem Konzertsaal des Röchelns, Schniefens und Schnaubens, einem Schattenreich voller mikroskopischer Tentakel, bereit zur feindlichen Übernahme aller versammelten Körperzellen. Zu dieser Zeit im Jahr zeigt das Kollegium im Umgang mit dem Kranksein sein wahres, unerbittliches Gesicht.

Grafikerin M. kann sich im Fahrstuhl kaum noch auf ihren zittrigen Beinen halten, haucht aber in einem letzten Aufbäumen ihrer Stimmbänder, „es geht schon – muss ja, viel zu tun.“ Kollegin J. bleibt nach eindringlichen Bitten ihrer Tischnachbarn einen halben Tag zu Hause und konstatiert bei ihrer Rückkehr im lahmsten Laientheatermonolog, wie durch ein Wunder geheilt worden zu sein. Währenddessen gehört Redakteur S. in Hinblick auf virale Winterfreuden einem besonders diabolischen Mischtypen an. Zum einen ist er ein klassischer Leugner, jemand der bei Heiserkeit vorgibt, sich lediglich zum Frühstück eine Kubanische gegönnt zu haben. Andererseits schiebt er anklagenden Blickes jedem eine Mund-und Nasenmaske zu, der es nur wagt, sich in seiner Gegenwart zu räuspern. Eine andere Kollegin hat derweil auf ihrem Schreibtisch einen turmhohen Schutzwall aus Vitamin-C-reichen Obstsorten errichtet.

Und ich frage mich inmitten dieses Lazaretts: Wo ist er hin, der (zur Schulzeit noch voll ausgekostete) Genuss des Einmummelns auf dem heimischen Sofa mit tröstlicher heißer Schokolade und der Lieblingsserie? So bleibt der Schluss wohl traurig aber wahr: Eine banale Erkältung ist in Zeiten des Kapitalismus so gar keine rechte Freude mehr.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Mut – Von couragierten Kommunikatoren und cleveren Kampagnen. Das Heft können Sie hier bestellen.

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