Hauptsache, die Schlagzeile stimmt!

Wochenlang diskutierte die Republik über Sexismus im Alltag, über Anzüglichkeiten und den „Alt-Herrenwitz“ des Herrn Brüderle. Ein einziger Artikel im „Stern“ löste eine riesige Debatte aus. Fakt ist, Kommentare zur Größe von primären und sekundären Geschlechtsteilen sind im beruflichen Umfeld schlicht daneben. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung des Beitrags allerdings auch. Warum wurde die Geschichte über die nächtliche Begegnung von dem FDP-Mann und einer Journalistin an einer Hotelbar erst ein gutes Jahr später gedruckt – kurz nach der Ernennung Brüderles zum designierten FDP-Spitzenkandidaten? Man kommt nicht umhin, dass Sensationsgier und Auflagensteigerung die vornehmlichen Motive waren. Dennoch brachte der „Stern“-Beitrag „Der Herrenwitz“ eine wichtige Diskussion in Gang und zeigt auch eins: die Macht der Medien. Die kannte schon Gerhard Schröder, der bekanntlich „zum Regieren nur ,Bild’, BamS’ und Glotze“ brauchte.

Beinahe jede Woche echauffiert sich die Republik auf höchstem Niveau über ein anderes Thema. „Skandal um vermeintliches Vergewaltigungsopfer in Köln“, „Plagiatsaffäre von Annette Schavan“, „Sexismus-Skandal um Brüderle“, „Skandal um Pferdefleisch in Lasagne“ oder „Aufstand gegen Amazon“. Die Themen haben selbstverständlich ihre Berechtigung, Medien erfüllen durch die Berichterstattung eine ihrer wichtigsten Aufgaben: ihre Wächterfunktion. Aber das Tempo, in dem die vermeintlich großen Skandale durch die Medien ziehen, ist mitunter zu hoch, die Intensität zu stark. In unserer kleinen, wohlgemerkt nicht repräsentativen Umfrage (siehe Kasten) wurden die Medien mit Schlagworten wie „Boulevardisierung“, „Hysterie“ und „Schlagzeilenorientierung“ kritisiert. Die Tonalität der Berichte stehe häufig im Zusammenhang mit Skandal und Empörung, schreibt ein Teilnehmer. Selbst „netzwerk recherche“ schreibt in dem Posi­tionspapier „Die Macht der Pressesprecher – und die Rolle der Journalisten“, dass für fragwürdige Exklusivmeldungen und kurzlebige Schlagzeilen oft der Grundsatz gelte „Schnelligkeit geht vor Qualität“.

Verdrehte Zitate
Dass die Zahl der (politischen) Skandale seit den 1950er Jahren gestiegen ist, bestätigt Hans Mathias Kepplinger, Professor für Empirische Kommunikationsforschung an der Universität Mainz: „In den 1950er Jahren hatten wir ungefähr zwei bis fünf Skandale auf nationaler Ebene. Heute haben wir schätzungsweise 60 bist 70.“ Einer der Gründe ist laut Kepplinger der intensive Wettbewerb innerhalb der Branche. Durch die Skandalisierung von bereits kleineren Missständen würden die Medien um die ohnehin immer geringer werdende Aufmerksamkeit des Publikums kämpfen. Durch das Internet und die damit einhergehenden Social Media entwickeln auch Geschichten um kleinere Missstände eine (gefährliche) Eigendynamik. Themen werden förmlich hochgepeitscht – und sind nach wenigen Wochen vergessen. In einer Zeit, in der Medienkonsum noch daraus bestand, zwei öffentlich-rechtliche Fernsehsender zu empfangen und die Lokalzeitung zu lesen, wären die Rücktritte der Guttenbergs, Schavans oder Wulffs weniger unausweichlich gewesen als heute. „Im Fall Wulff haben eindeutig die Medien regiert“, sagt Hans-­Ulrich Jörges in dem Interviewband „Die gehetzte Politik“ zu dem Thema. Drei Dinge hätten den Journalisten vom „Stern“, dem Magazin, das die Brüderle-Debatte ins Rollen brachte, in diesem Zusammenhang erschreckt: „Konformitätsdruck, die Haltungslosigkeit und die Skandalsucht.“ Ob er das heute auch noch so sagen würde?

Tui, Amazon und ARD
Der Journalismus in Deutschland ist relativ stark. Und das ist gut so. Denken wir doch nur an die wirklich großen Skandale, die durch hervorragende Journalisten aufgedeckt wurden, zum Beispiel: die CDU-Spendenaffäre, der Fall Teldafax oder die VW-Korruptionsaffäre. Die Pressefreiheit, sie ist ein unglaublich wertvolles Gut. Dreimal pro Woche dürfen der Regierungssprecher und die Sprecher der Ministerien bei der Regierungspressekonferenz „gegrillt“ werden. Dennoch müssen auch Journalisten sich kritisieren lassen. Aber das fällt mitunter schwer. Dass Zitate aus dem Kontext gerissen oder falsch verstanden werden, ist keine Seltenheit. In der Kritik steht diesbezüglich auch die ARD.

Mit der Reportage „Ausgeliefert!“ hat sie den weltgrößten Onlinehändler Amazon extrem in Bedrängnis gebracht – aus gutem Grund. Die Journalisten berichten über die Bedingungen unter denen ausländische Leiharbeitnehmer für Amazon arbeiten und leben. Sicherheitsdienste sollen die Leiharbeiter zudem schikaniert haben. Die ARD-Reportage sorgte für Wirbel – in der Presse und in der Politik. Eine in dem Beitrag genannte Amazon-Zeitarbeiterin wundert sich im Nachhinein jedoch über den Bericht. „Vieles ist zwar wahr, aber vieles ist auch sehr verdreht dargestellt“, wird Silvina Cerrada in der Zeitung „Kreisanzeiger“ zitiert. Mehrfach wurde Cerrada von den Reportern gefragt, ob sie die Lebensverhältnisse nicht zu beengt fände. „Ich habe immer geantwortet: Nein, das ist kein Problem, es gefällt mir gut hier. Aber das wurde im Fernsehen nicht gezeigt“, zitiert der „Kreisanzeiger“ weiter. Cerrada ist nicht die einzige Insiderin, die den Beitrag kritisiert. Auch Maik Dippel, einst Leiharbeiter, jetzt festangestellt bei Amazon, ärgert sich über die Doku: „Da wurde doch fast alles falsch dargestellt, man zeigte nur das Negative“, sagt er auf „HNA.de“. Warum muss der Bogen immer ein Stück weiter gespannt werden als nötig? Die Verhältnisse waren (sind) doch ohnehin schon schlimm genug.Viele Unternehmen hat der ARD-Markencheck durchleuchtet, darunter: Adidas, Coca-Cola, Rewe, Edeka und auch Tui.

Die meisten Unternehmen und Verbände äußern sich nur ungern öffentlich zu kritischer Berichterstattung, egal ob im Fernsehen oder in der Zeitung. Durch etwaige Kritik an den Medien würden sie unter Umständen noch mehr schlechte Presse provozieren – und das ist für Marken schädlich. Man könnte auch sagen, sie haben Angst vor der Macht der Medien. Der Reiseveranstalter Tui wollte die Vorwürfe, die im Markencheck erhoben wurden, nicht auf sich sitzen lassen. Einen Tag nach Ausstrahlung des Beitrags gibt der Konzern eine Pressemitteilung heraus. Darin nennt der Leiter der Tui-Unternehmenskommunikation, Mario Köpers, den 45-minütigen Check „durch und durch tendenziös“. Weiter heißt es in der Erklärung: Tui fühle sich „von den Autoren hinters Licht geführt“, sei „schockiert über die Art und Weise, wie dieser Beitrag gestaltet wurde“. Für Tui habe es im Vorfeld keinen Grund gegeben, nicht bei dem Beitrag mitzumachen, sagt Köpers. Man sei schließlich überzeugt von den eigenen Produkten. Auf knapp drei Seiten nimmt das Unternehmen Tui zu dem ARD-Beitrag Stellung und versucht seine Sicht mit zahlreichen Stimmen aus den sozialen Netzwerken zu belegen, auch aus dem „ARD.de“-Chat direkt nach der Sendung. Ein Twitter-User macht seinem Ärger mit folgenden Worten Luft: „Das ist so repräsentativ wie ein Brustvergrößerungsbericht bei Taff. Auch das erleiden Sie für unsere Gebühren.“ Die Kritik von Tui fand Widerhall in den Medien. Die 2,8 Millionen Zuschauer, die den Beitrag sahen, wird der Reiseveranstalter jedoch nicht erreicht haben. „Mit riesiger Medien-Resonanz sollten Unternehmen in solchen Fällen nicht rechnen“, sagt der Kommunikationswissenschaftler Kepplinger. Aber „Unternehmen können heute – ohne die Hürde der etablierten Medien – durch das Internet ihre Sicht der Dinge darstellen“, fügt er hinzu. Das erhöhe das Risiko von Übertreibungen der Journalisten und von Fehlinformationen.

Zufrieden äußerte sich ADAC-Sprecher Christian Garrels zu der Berichterstattung über den Automobil-Club im Markencheck: „Die journalistische Recherche gestaltete sich – wie es sich für einen öffentlich-rechtlichen Sender gehört – akribisch und kritisch“, sagt er. Gelegentlich sei bei den Recherchen zu spüren gewesen, dass die ARD-Kollegen gerne einen journalistischen Scoop gefunden hätten. Dieses Suchen sei aber zu jedem Zeitpunkt fair und angemessen gewesen.

In Zukunft machtlos?
Die Quoten klassischer Nachrichtensendungen sind rückläufig, die Auflagen der Zeitungen schwinden, die Werbeeinnahmen gehen seit Jahren zurück. Schlechte Aussichten für die vierte Gewalt im Staate?
Redaktionen bauen Personal ab, Verlagsmanager verordnen strikte Sparmaßnahmen und suchen nach neuen Erlösmodellen. „Mit der fortschreitenden Ausdünnung von Redaktionen geht auch ein Verlust an Macht einher“, sagt der Kommunikationswissenschaftler Horst Röper vom Dortmunder Formatt-Institut. Das führe dazu, dass die klassischen Medien ihre ureigene Kontrollfunktion, im Sinne einer vierten Gewalt, gegenüber Wirtschaft und Politik verlieren. Junge Leute würden heutzutage vor allen Dingen soziale Netzwerke nutzen, so Röper. Nicht auszudenken, wenn uns in Zukunft nur noch Facebook, Twitter und Youtube die Welt erklären.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Die Macht der Medien. Das Heft können Sie hier bestellen.

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