Frauen ohne Namen

Es wäre anschaulicher, diesen Artikel mit einem Namen zu ­beginnen. Der Beschreibung eines Gesichts. Mit dem realen Beispiel einer Frau, der in ihrer Ehe Gewalt begegnet ist. Oder einer Frau, die von einem Stalker verfolgt wird und keinen Ausweg mehr weiß. Um dann zu erklären, wie wichtig Beratung ist und ­welche Aufgabe sich das vor gut einem Jahr beim Bundesamt für ­Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) eingerichtete Hilfe­telefon Gewalt gegen Frauen gestellt hat. Aber die bei ­Journalisten beliebte, mehr oder minder dramatische Schilderung eines Einzelschicksals ist in diesem Zusammenhang unangebracht – und auch gar nicht möglich. Denn das oberste Gebot in der Öffentlichkeitsarbeit für das ­Unterstützungsangebot ist Diskretion.
Befolgt wird es vom Team um Philipp Mehne und Projektleiterin Katrin Kuhn von Scholz & Friends. „In der Kommunikation haben wir nie mit Betroffenen gearbeitet. Wer beim ­Hilfetelefon anruft, muss sich darauf verlassen können, anonym und sicher zu bleiben“, sagt Mehne. Eine besondere Situation, die einige Hindernisse mit sich bringt. „Das war für uns in der PR- und Pressearbeit manchmal schwierig, weil die Geschichten Betroffener ­natürlich ­immer mehr Aufmerksamkeit generieren. Wir standen vor der ­Herausforderung, die Geschichte des Hilfetelefons zu erzählen, ohne sie zu Wort ­kommen zu lassen.“

Ein Jahr Hilfetelefon – ein Resümee

Die Geschichte beginnt im Dezember 2011 mit dem Gesetzesentwurf zur Einrichtung eines Frauenhilfetelefons im Bundestag. Im März 2013 ging das Unterstützungsangebot schließlich an den Start. Laut dem ersten Jahresbericht haben inzwischen 47.504 Kontakte stattgefunden. Nicht ausschließlich per Anruf – neben dem Hilfe­telefon wird auch Beratung per E-Mail und Chat im Internet angeboten. ­Petra Söchting, Leiterin des Hilfetelefons, zeigt sich mit der Bilanz nach einem Jahr zufrieden: „Uns sagen diese Zahlen, dass das ­Hilfetelefon eine Lücke schließt. Die Nachfrage ist da.“ Im ­ersten ­Jahresbericht sei festzustellen, dass all das, was geplant war, auch ­angenommen wurde. So habe man alle Zielgruppen erreicht, es ­meldeten sich Frauen jeden Alters, mit unterschiedlichem ­sozialem Status, mit und ohne Migrationshintergrund, mit und ohne Behinderung. Manche riefen aus einer ganz akuten Gewaltsituation heraus an, bei anderen liegt die Gewalterfahrung schon länger ­zurück. Viele haben zuvor noch nie darüber gesprochen, was ihnen widerfahren ist. „Sie nutzen jetzt die Anonymität und Niederschwelligkeit des ­Angebots, um dort ein erstes Mal über all das zu reden.“ Auch Einzel­fälle zu Themen wie Zwangsheirat oder Genitalverstümmelung hat es bereits gegeben. Teilweise könne das Hilfetelefon sogar insofern präventiv wirken, als dass beraten wird, bevor die Befürchtungen eingetreten sind, sagt Söchting. Es melden sich aber nicht nur die gewaltbetroffenen Frauen selbst. Eine weitere Zielgruppe des ­Angebots besteht in deren sozialem Umfeld – die Angestellte, die mitbekommt, dass ihre Kollegin tagtäglich mit E-Mails des Ex-Partners bombardiert wird, oder die Erzieherin, der ein Kind erzählt, dass der Vater zu Hause oft handgreiflich gegen die Mutter wird.

Eine Vielzahl unterschiedlicher Zielgruppen

Es sind viele Zielgruppen, die auf das Hilfetelefon aufmerksam gemacht werden sollen. Gemeinsam mit dem Bundesministerium und Petra Söchting haben Berater Philipp Mehne und seine Kollegen Ideen dafür erarbeitet und umgesetzt. Für die gezielte Ansprache musste zunächst ermittelt werden, welche Fragen sich die betroffenen Frauen überhaupt stellen. Dafür führte die Agentur stichprobenartig Gespräche mit Beratungsstellen in ganz Deutschland. Zentrale Idee war es dann auch, die Fragen der Frauen in den Mittelpunkt der Kampagne zu stellen. Dazu musste das breite Spektrum der ­Betroffenen auch in den Motiven abgebildet werden. Die Frau mit Down-Syndrom, die fragt: „Darf er das?“, die Mutter mit Kleinkind auf dem Arm, die junge Migrantin.
Die Gewaltdarstellung sollte darauf zwar deutlich werden, aber trotzdem sensibel bleiben. „Uns war wichtig, dass wir mit unseren Motiven zwar aufrütteln, um Aufmerksamkeit zu erreichen, aber nicht schocken. Wäre man zu drastisch geworden, hätte man vielleicht die Würde der Betroffenen verletzt“, erklärt Mehne. Schließlich gehe es nicht darum, Opfer zu zeigen, sondern Frauen dazu zu ermutigen, das Hilfsangebot anzunehmen. Im TV-Spot der Regisseurin Ina Weisse war diese Balance ebenso Thema: eine Frau, die mit ihrem Mann in gepflegtem Ambiente ­gemeinsam frühstückt. In der Luft liegt die Androhung von Gewalt, ihr Blick ist verstört. In einer Sequenz erkennt man den Grund für ihre Ä­ngste in den Misshandlungen durch ihren Partner. Bevor er erneut hand­greiflich werden kann, steht sie auf und verlässt die Situation.

Am anderen Ende der Leitung

Aber was passiert überhaupt, wenn eine Betroffene die Nummer gewählt hat? „Die Beraterin nimmt sich Zeit und hört erst einmal zu. Aufgrund der ganz persönlichen Geschichte überlegt sie sich dann gemeinsam mit der Anruferin, was ihr in ihrer Situation am besten helfen kann.“ Für Söchting steht die Individualität der Schicksale im Beratungskonzept an erster Stelle: „Gewalt gegen Frauen hat ganz viele Gesichter und findet in den unterschiedlichsten Zusammenhängen statt. Gewalt ist nicht gleich und macht auch nicht gleich. Darum gibt es bei uns keine Patentlösungen oder Standardantworten für bestimmte Fallkonstellationen.“ Vielmehr gehe es darum, erste Schritte zu überlegen und dazu zu ermutigen, sie zu gehen.
Unter den zurzeit ungefähr 60 Beraterinnen sind vor allem Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen und Pädagoginnen. Alle haben einen akademischen Hintergrund und bereits Beratungserfahrung. Vor dem Start des Hilfetelefons sind sie gemeinsam geschult worden: Wie berate ich am Telefon? Wie spreche ich mit Frauen mit Behinderung in einfacher Sprache? Auch interkulturelle Kompetenzen spielen eine große Rolle. Einige der Beraterinnen stammen selbst nicht aus Deutschland. Zudem gibt es einen Dolmetschdienst, durch den die Gespräche in 15 Sprachen kommuniziert werden können. Alle Beraterinnen sitzen im BAFzA in Köln, haben aber Zugriff auf eine bundesweite Datenbank, sofern die Frauen einer Weitervermittlung zu Anlaufstellen in ihrer ­Region bedürfen.

Die kommunikative Herausforderung

Da der Nutzen des Hilfetelefons für die Zielgruppe maßgeblich vom Bekanntheitsgrad des Angebots abhängt, besteht für das BAFzA die gesetzliche Pflicht, sicherzustellen, dass es „durch Öffentlichkeitsarbeit bundesweit bekannt gemacht und kontinuierlich bekannt gehalten wird“. Die Nummer und die wichtigsten Eckdaten ohne einen „unendlichen Etat“ breit zu kommunizieren, sei eine große Herausforderung für die Öffentlichkeitsarbeit, sagt Leiterin Söchting. Besonders wichtig für die Kommunikation war der Aufbau eines dichten Netzwerks im ­fachlich-sozialen Umfeld. In vielen Kommunen gibt es Unterstützungseinrichtungen oder Runde Tische gegen Gewalt. Diese müsse man als Kooperationspartner gewinnen, sagt auch Mehne. Wenn Frauenhäuser und Beratungsstellen vor Ort die Nummer mit aufnehmen, ist schon viel gewonnen. Auch Aktionen rund um den 25. November, dem internationalen Tag gegen ­Gewalt an Frauen, bieten eine Plattform, um die Nummer bekannt zu machen. Im vergangenen Jahr haben an diesem Tag vier Fernsehkommissarinnen auf einer Pressekonferenz ­Geschichten vorgetragen, die von Beraterinnen gesammelt worden waren. Die Schauspielerinnen Ulrike Folkerts, Elisabeth Brück, Adele ­Neuhauser und Eva Mattes konnten als Botschafterinnen für das Hilfetelefon gewonnen werden. „Die nacherzählten Schicksale waren zuvor so anonymisiert worden, dass man keinen individuellen Fall mehr darin erkennen konnte“, betont Mehne. „Auf diese Art haben wir es geschafft, den Geschichten Gesichter zu verleihen, und prominente Personen gefunden, die sie in die Öffentlichkeit tragen.“ Solche Aktionen sorgen zwar kurzfristig für mediale Resonanz und Aufmerksamkeit. Doch diese ist schnell wieder verschwunden. Das weiß auch Mehne: „Unser Ziel muss es sein, die Nummer dauerhaft präsent zu machen.“ Eine ­Aufgabe, die sich nicht innerhalb weniger Monate erledigen lässt.

Setzen sich nicht nur auf dem Bildschirm gegen Gewalt ein: die vor allem als Fernseh-Kommissarinnen bekannten Schauspielerinnen Elisabeth Brück, Adele Neuhauser, Ulrike Folkerts und Eva Mattes (2., 3. und 4. v. li. und ganz rechts) zusammen mit Petra Söchting (links) und der ehemaligen Familienministerin Kristina Schröder (2. v. re.) auf einer Pressekonferenz am 25. November 2013 (c) Amin Akhtar

Diskretion trotz Öffentlichkeit

Das Thema Gewalt ist für die meisten Betroffenen mit Scham ­behaftet. Diese Tatsache muss auch in der Öffentlichkeitsarbeit mitgedacht werden. Dass sie nicht unbedingt einen Flyer einstecken möchten, auf dem in großen Lettern „Hilfetelefon“ steht. Und dass es für Frauen in gewalttätigen Beziehungen auch gefährlich werden kann, wenn der Partner ihn entdeckt. Den Machern der Kampagne ist das bewusst. Aus diesem Grund wurden die Plakate mit unauffälligen Abreißzetteln entworfen, die im Vorbeigehen mitgenommen werden können. Um die Barriere niedrig zu halten, werden Plakate, Flyer und auch die Webseite selbst in verschiedenen Sprachen und in einer für Frauen mit Behinderung leicht verständlichen Version bereitgestellt.
Das gesamte Angebot ist auf Anonymität ausgerichtet, es wird nicht nach Namen gefragt, auch die Telefonnummern der Anruferinnen können nicht zurückverfolgt werden. Diskretion ist ein großes Thema. Auch auf der Webseite gibt es daher einen großen „Ausstiegs-Button“, jede Seite ist schnell mit einem Klick zu verlassen. Zudem hat man kleine, unauf­fällige Giveaways wie beispielsweise Handyputztücher entwickelt, auf denen die Nummer vermerkt ist. Flyer und Plakate wurden auch ­gezielt dort platziert, wo Frauen unter sich sind, wie in Damen­toiletten oder den Umkleidekabinen von Fitnessstudios.

Zusammenschlüsse im selben ­Interesse

Nach einem Jahr ist die Aufgabe auch für Kommunikation und ­Werbung noch lange nicht erledigt. Dem Jahresbericht zufolge ist das Hilfe­telefon den Frauen vornehmlich über Presse und Internet bekannt. Künftig ­wolle man einen noch stärkeren Schwerpunkt auf die Partneraktivierung setzen, sagt Mehne. Das Wort „Partner“ fasse man dabei in einem sehr weitem Sinne: „Das können Kommunen sein, Arztpraxen oder Sportvereine.“ Man halte sich an die, die eine ähnliche Agenda ­ver­folgen. ­Konkurrenz gibt es in solch einem Bereich nicht, sondern eher den Wunsch, sich aus demselben Interesse zusammenzuschließen. Im Zentrum steht weiterhin das Bemühen, dauerhaft präsent zu werden: „Wir wollen nicht nur punktuell werben, sondern nachhaltige Aufmerksamkeit erreichen.“

Das Thema Gewalt gegen Frauen hat im März durch die ­Veröffentlichung einer Studie der EU-Grundrechte-Agentur (FRA) große ­Aufmerksamkeit erfahren. Ihr zufolge haben 35 Prozent der Frauen in Deutschland seit ihrer Jugend körperliche oder sexuelle ­Gewalt erlebt. Eine Zahl, die erschreckt. „Soll ich deshalb 30 Jahre Ehe aufgeben?“ Die auf einem der Plakate unter dieser Frage abgebildete Frau mit den blauen Flecken am Kinn, die zusammengesunken auf einem grauen Sofa sitzt, ist keine echte ­Betroffene. Die Frage allerdings ist für viele andere vermutlich schmerzhaft real. 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Mittelstandskommunikation. Das Heft können Sie hier bestellen.

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