Erleben, was versöhnt

Reportage über das A-Team der Telekom

Telekomiker, T-Offline, Teledoof. Das sind nur einige der Begriffe, nach denen ein Algorithmus im Netz rund eine halbe Million Webseiten absucht, um für die Deutsche Telekom herauszufinden, wer sich auf welchen Portalen über sie austauscht. Natürlich würde er lieber nach Best Case, T-Mobile und MagentaEins suchen, sagt Oliver Nissen und blickt lachend auf die unruhige Wasseroberfläche der Kieler Förde. Er ist Leiter Social Media und Services der deutschen Telekom Kundenservice GmbH, und sitzt an diesem Dienstagmittag auf einer der Bänke direkt am Ufer, zwischen gutgelaunten Anglern und hektischen Touristen. Die Möwen ziehen am Himmel kreischend ihre Bahnen. Es ist einer seiner Lieblingsplätze.

Die rund 500 Mitarbeiter des Telekom-Kundenservices am Standort Kiel können dort zu Mittag essen, wo andere Kurzurlaub machen. Oliver Nissen geht jedoch selten zum Mittag vor die Tür, essen tut er lieber, wenn er wirklich Zeit dazu hat. Und die ist knapp.

Seit 2003 arbeitet der gebürtige Kieler im Kundenservice, zuerst bei T-Online, von 2007 an bei der Telekom; damals lief der Kontakt mit den Kunden noch per Telefon, Mail oder Fax. Ab 2010 wechselte er mit dem Projekt „Telekom hilft“ von analogen zu digitalen Medien. 2009 war der heute 45-Jährige noch überzeugt, Twitter sei nur etwas für die Paris Hiltons dieser Welt. Dennoch suchte er aus Neugier einmal nach dem Stichwort „Telekom“ – und war überrascht, wie viele User sich dort über den Service der Telekom aufregten. Und noch viel schlimmer: Es reagierte natürlich niemand. Oliver Nissen begann nach Feierabend, jedem einzelnen zu antworten. Ein Engagement, das ihn für den Job des künftigen Social-Media-Teamleiters prädestinierte. In der Chefetage des Bereichs Internet und Service gab es bereits Überlegungen, durch ein Social-Media-Team „dorthin zu gehen, wo der Kunde ist“, wie Oliver Nissen sagt.

Oliver Nissen beim Interviewtermin in Kiel (c) Julia Nimke

Von Social Media zum digitalen Dialog

Eine Erlaubnis für den Alleingang holte Oliver Nissen sich damals nicht. Er lächelt. „Ich glaube, es war gut, dass wir damals eben nicht so viel gefragt, sondern einfach gemacht haben.“ Im Kontext einer Kultur, die eher einer Behörde glich, ein kühner Schritt. Aber es ist mittlerweile auch zwanzig Jahre her, dass der Staatskonzern in eine Aktiengesellschaft überführt worden ist; nun steht die digitale Transformation bevor. Für viele Unternehmen sind die Sozialen Medien schon ein riesiger Schritt, Oliver Nissen strebt bereits mit leuchtenden Augen dem digitalen Dialog entgegen. Er startete im Mai 2010 auf Twitter, sechs Monate später kam Facebook hinzu. Der Kundendialog funktionierte vorerst nach dem Frage-Antwort-Prinzip. Der nächste logische Schritt war, den Dialog zwischen den Usern zu moderieren, sich eine Community aufzubauen. Dort beantworten sie sich gegenseitig ihre Fragen. Die Mitarbeiter schalten sich ein, falls niemand reagiert und bestätigen richtige Antworten.

Doch was ist mit den Emotionen verärgerter Kunden im Social Web? Auch sie gilt es einzufangen. Oliver Nissens Chef Gero ­Niemeyer hatte 2013 die Idee, Kunden, die ihrem Frust im Netz Luft machen, zu finden und anzusprechen. „Man könnte das Digitalen Service Outbound nennen“, sagt Oliver Nissen. „Oder einfach mit der Frage ­anfangen: Wollen wir drüber reden?“

Solch ein Klärungsgespräch war bereits vor zwei Jahren notwendig, als der für seine schroffen Posts bekannte Twitter-User @griesgraemer die Telekom angriff. Er hatte damals eine Info-SMS erhalten, sein Datenvolumen sei aufgebraucht. Nach einem „LECKT MICH AM ARSCH, IHR PENNER“ als SMS, postete er einen Screenshot davon an @Telekom_hilft. Eine Mitarbeiterin fragte Oliver Nissen, ob sie dem Pöbler auf ihre Art antworten dürfe. Er erinnert sich noch genau an dieses „dialogische Highlight“, das der Telekom-hilft-Abteilung bei den PR-Kollegen sicherlich einige Anerkennung einbrachte. „Es war ein Samstagnachmittag. Ich sagte: ‚Ja, lass uns das machen, wenn es floppt, bade ich es aus.‘“ Ein Schlagabtausch begann: „@Griesgrämer Guten Tag. Sie haben geläutet. Was wollen Sie? ^an“, schrieb die Mitarbeiterin Anna unter ihrem Kürzel. Er ätzte zurück. Souverän beendete sie das Gespräch: „(…) So. nun beruhigen wir uns alle wieder und ich darf arbeiten. SCHNAUZE!! ^an“. Diese gespiegelte Art der Kommunikation floppte nicht, sie wurde – ganz im Gegenteil – von stern.de, Focus Online, RP-Online und einigen anderen äußerst lobend aufgegriffen. Ein Schritt in Richtung moderne Telekom.

Servicekommunikation ist Teil einer neuen PR

Organisatorisch gehört „Telekom hilft“ zum Kundenservice, und nicht zur Unternehmenskommunikation, die in der Bonner Zentrale sitzt. Oliver Nissen findet das gut. Stößt ein Mitarbeiter auf einen alarmierenden Kommentar, entscheidet dieser zuallererst selbst, ob er darauf reagiert oder die Verantwortung abgibt. Braucht er Hilfe, informiert er mit einem Buzzer alle Führungskräfte. Diese entscheiden, ob es ein Fall für die Unternehmenskommunikation ist. Dort sitzen ebenso Experten zum Thema Kundenservice. Für größere Krisensituationen sitzt außerdem ständig ein Krisenmanager in Kiel, der im Notfall ein verantwortliches Team zusammenruft.

Ein Beispiel? Oliver Nissen blickt ernst und erzählt von der Dezember-Titelgeschichte im „Stern“ mit der Überschrift „Der wahrscheinlich längste Servicefall der Welt“. Acht Monate wurde ein Kunde mit seinen Anliegen auf Twitter vertröstet. Oliver Nissen entschuldigte sich bei ihm damals persönlich mit einer Videobotschaft. Er spricht in diesem Zusammenhang von Demut, weniger Anmaßung, als Konzern zu glauben, man wisse alles. Der Kundendialog habe sich verändert. Wie die Telekom mit Fehlern umgeht, sei ebenso eine Markenbotschaft wie die Posts jedes einzelnen Social-Media-Mitarbeiters.

Das muss nur noch vollständig im Unternehmen ankommen. Oliver Nissen sagt: „Wenn ich durch die sozialen Medien ein Fenster ins Unternehmen öffne, gibt es naturgemäß unterschiedliche Meinungen darüber, wie tief man blicken lässt.“ Es gibt viel Austausch mit der Kommunikationsabteilung. Er diskutiere auch einmal über Formen und Inhalte, doch am Ende gebe es immer ein gutes Ergebnis. Er sieht zufrieden aus, und spricht von der Kontroll-Illusion, der viele Unternehmen unterlägen, wenn sie sich einbilden, sie könnten das Geschehen im Social Web hoheitlich ­steuern.
Gründe für den Kundenärger

Doch warum gibt es eigentlich so viel Frust unter den Telekom-Kunden? Diese Frage beantwortet Oliver Nissen sicherlich nicht das erste Mal. Er blickt kurz zu Boden, holt Luft, spricht von Silodenken, vielschichtigen Ursachen. „Bei rund 228.000 Mitarbeitern gibt es leider immer wieder jemanden, der Fehler macht. Auch wir sind nicht frei davon. Das sind bedauerliche Einzelfälle.“ Ja, das klinge wie eine Floskel. Er lächelt versöhnlich.  „Bei jährlich 80 Millionen Kundenkontakten im Kundenservice kommt es zu Missverständnissen, oder Kollegen fühlen sich nicht zuständig, haben selbst mal einen schlechten Tag und können nicht richtig auf den Kunden eingehen. Solche Situationen sind nicht gut, aber sie kommen vor.“ Er lächelt. „Uns ruft aber auch selten jemand an und bedankt sich, wenn etwas klappt.“

Emotional werde die ganze Kundenbeziehung vor allem auch durch die Werbung, die mit ihren Versprechen Gefühle schüre. „Wenn wir sagen, mit uns bekommst du Zugang zu positiven Emotionen, gibt es automatisch Frust, wenn das nicht klappt“. Aber der größte Frust entstehe, wenn sich jemand scheinbar nicht dafür interessiere, dass etwas nicht funktioniere.

Ist es eigentlich verletzend, wenn Telekom-Kunden im Netz über das Unternehmen lästern? Oliver Nissen bleibt gelassen. Wenn man seit 13 Jahren mit Kunden zu tun hat, wisse man, wie sie miteinander redeten. Wenn er sich die Antworten seines Teams darauf anschaut, ist er stolz  (c) Julia Nimke

Deshalb ist das neu gegründete Alert-Team täglich mit Hilfe eines Programms auf Telekom-fremden Seiten unterwegs und sucht nach Kunden, die Hilfe brauchen, weil Techniker, Call Center und T-Shops versagt haben. Der neue digitale Kundendialog, Oliver Nissens großes Ziel, fängt für ihn bereits mit einer vernünftigen Kontakthistorie an. Kunden sind natürlich unzufrieden, wenn sie verschiedene Antworten von mehreren Kundenbetreuern bekommen. Die Mitarbeiter des 120-köpfigen Telekom-hilft-Teams betreuen deshalb nach Möglichkeit jeweils immer einen Kunden, bis das Problem gelöst worden ist. Dass das funktioniert, liegt an den Sichtern im Team. Sie verteilen die Kundenanfragen und zu betreuenden Kanäle an die jeweiligen Mitarbeiter. „Für die Zukunft wünsche ich mir eine reibungsfreiere Übergabe von Kundenanliegen zwischen allen Einheiten und eine bessere technische Anbindung  der sozialen Netzwerke an den Kundenservice“, sagt Oliver Nissen.

Laut Kundenbefragungen steigen mittlerweile die Sympathien für den Kundenservice. Auch intern. In wöchentlichen Berichten werden alle Themen zusammengetragen, die die Community bewegen. Auch die Mitarbeiter spiegeln ihre Eindrücke der Führungskraft und die Kollegen in Bonn analysieren zusätzlich das Web. Der Report geht an das Topmanagement, Oliver Nissen und sein Team sprechen Handlungsempfehlungen aus oder bitten um Unterstützung. Früher mutete das Social-Media-Team in den Augen des Topmanagements noch exotisch an, heute lösen die Reports Diskussionen und Veränderungen aus.

Dialogbereitschaft sichtbar machen

Die Kritik der User ist zwar im Netz verewigt, die Reaktion des Alert-Teams jedoch auch. Oliver Nissen geht es nicht darum, Kritik unsichtbar zu machen, sondern, dass alle Mitleser die Dialogbereitschaft des Telekom-Kundenservice spüren. Die Tonalität der Kundenansprache ist in einem Handbuch festgehalten. Eine Software regelte einige Zeit lang, dass jeder Post gegengelesen wird, das wurde aufgelockert. Denn jeder Mitarbeiter soll autark im Netz agieren und seine eigene Tonalität leben können. Er entscheidet selbst, ob ein Kollege über das Geschriebene schaut oder nicht. Ein weiterer Schritt Richtung Vertrauen.

Oliver Nissens gesamtes Social-Media-Team ist nun in der dritten Phase der Teamentwicklung angekommen. Nach der Orientierungs- (­Forming) und Konfliktphase (Storming) befinden sich die Mitarbeiter nun im Übergang zur Organisationsphase (Norming); sämtliche Personalentscheidungen sind getroffen, die Aufgaben und Rollen verteilt. Dabei sind die Teamleiter immer auf der viel zitierten Augenhöhe mit dem Mitarbeiter. Im Kontext des Kundencenters Kiel wurde diesen Worten durch ein Podest Leben verliehen. Dort sitzt ein Teil der Teamleiter. Wendet sich ein Mitarbeiter mit einer Frage an den sitzenden Chef, steht er tatsächlich in direktem Blickkontakt mit ihm, ein Gespräch auf Augenhöhe.

Hier arbeitet das A-Team der Telekom (c) Julia Nimke

Steht man am Teamleiter-Tisch, blickt man dem Chef direkt in die Augen. Ein extra dafür konstruiertes Podest sorgt für diesen Kontakt auf Augenhöhe zwischen Mitarbeiter und Führungskraft (c) Julia Nimke

Kontrollierte Flexibilität

Die Ambivalenz des Übergangs von einer kontrollierten zu einer flexiblen, dialogbereiten Organisation ist in dem großen Backsteingebäude gegenüber des Kieler Hauptbahnhofs deutlich zu spüren. Die Räume mit den flachen Decken sind durchdacht eingerichtet, strahlen eine gewisse Strenge aus. Auf den Tischen sind nach dem Prinzip Desk-Sharing keinerlei private Gegenstände. Geht Oliver Nissen durch die Gänge des ruhigen, verwinkelten Gebäudes, grüßt ihn jeder herzlich; man duzt sich.

Im ruhigen Konferenzraum angekommen, spricht Oliver Nissen von der Zukunft; den nächsten Schritt in Richtung Performing, der Integrationsphase der Teambildung. Welche Arbeitsschritte sind entbehrlich? Wie kann man die Logik des Tools, das Kundenbeiträge an Mitarbeiter verteilt, anpassen? Welche Coachings sind wichtig? Wie können Wissensträger im Konzern identifiziert werden, um seltene Fälle lösen zu können? Es ist ein Spagat zwischen intelligenten, effizienzschaffenden Prozesslogiken und der Einmaligkeit von Beziehungen zwischen Mitarbeiter und Kunde, den Oliver Nissen und sein Team täglich bewältigen müssen.

Die Zukunft der Kundenkommunikation liegt laut Oliver Nissen darin, dass sie ihr Anliegen durch intuitive Selfservices künftig nahezu selbst lösen können. In Erklärvideos auf Youtube tummeln sich bereits Telekom-Mitarbeiter, die sich zu einem Tutorial bereiterklärt haben. Eine App ermöglicht es Kunden, den Router selbstständig zu konfigurieren. Der Service­blog und die sozialen Kanäle streuen Inhalte, die Fragen beantworten sollen, noch bevor sie gestellt werden. Dennoch ist es insgesamt bisher nur ein Prozent der Kunden, die über das Social Web betreut werden.

Oliver Nissen steht im Konferenzraum, den er ursprünglich als Ort für das Interview ausgewählt hatte, und trinkt einen Kaffee. Eigentlich wäre es schön, könnten die Mitarbeiter ihre Tische mit persönlichen Gegenständen füllen, überlegt er laut. Zwischen den Wänden des kargen Raumes ist der stille Wunsch spürbar, für eine neue Dialog- und Fehlerkultur  künftig auch weiterhin mit überholten Regeln brechen zu dürfen.

 

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Psychologie. Der Kommunikator und seine Rolle. Das Heft können Sie hier bestellen.

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