Appsolut kompakt – wie das UN-Wissen in eine Hand passt

Ein Hinterhof in Friedrichshain: Das Büro der Berliner Medien-Agentur Lucid könnte es mühelos ins „schöner wohnen“ schaffen. Aus einem ehemaligen Stall zauberte der Architekt Matschinske die Agenturräume. In den antiken Kuhtränken stehen heute Ordner und Ökokaffee, die Fußbodenheizung liegt unter der Gülle-Ablaufrinne und in der früheren Stalltür wachsen Bonsais. Hier entwickelt ein kleines Team Web-Plattformen und Apps unter anderem zu internationalen Frauenrechten und informiert über Kinder in bewaffneten Konflikten.

 Matschinske und Schiele (c) Julia Nimke

Felix Matschinske (l.) und Jan Schiele (c) Julia Nimke

Herr Schiele, kennt Ban Ki-moon Ihre Arbeit?

Jan Schiele: Ich glaube schon. Wir waren nominiert für einen Menschenrechts-Award, bei dem er in der Jury saß. Am Ende verloren wir allerdings gegen ein Projekt für Begleithunde bei Gerichtsverhandlungen. Tiere sind immer schwer zu schlagen (lacht). Aber er unterstützt unsere Frauenrechts-App.

Was bitte ist eine Frauenrechts-App?

Schiele: Alle Gesetzestexte, Verordnungen, Anhänge und Hintergrundinformationen füllen bei der UN ganze Archive, zu denen nur Experten Zugang haben. Assistenten mussten die erst durchsuchen, um dann sehr viel Papier zu kopieren. Wir haben eine App für Experten entwickelt, die alle diese Informationen so bündelt, dass die Bibliotheken in eine Hand passen.

Wie entwickelt man eine solche App?

Schiele: Man muss die Hierarchie der Informationen im Sinne einer didaktischen Reduktion neu denken und klassifizieren, Schlagwörter und besondere Aspekte anders differenzieren und eine digitale Ebene öffnen. Der Laie muss nach dem Lesen etwas Neues gelernt haben und der Experte sagen können, dass alles stimmt.

Eine Auswahl der aktuellen Projekte (c) Lucid Berlin

Eine Auswahl der aktuellen Projekte (c) Lucid Berlin

Wie setzt man das praktisch um?

Felix Matschinske: Bei interaktiven Anwendungen, egal ob für das Internet oder bei Apps, werden Informationen auf verschiedenen Ebenen angeboten. Wenn man das Wissen erst einmal neu geordnet hat, lohnt es sich, das auch in verschiedenen Formaten zu publizieren. Die Herausforderung ist dabei, ein Bild zum Thema zu schaffen. Ob Fotos, Grafiken oder Filme – welche passenden visuellen Elemente gibt es? Zusätzlich müssen wir auch auditiv und über Kultur- und Sprachgrenzen hinweg denken.

Ihr Team muss riesig sein – passen die alle in den Kuhstall?

Matschinske: Konzeption, Struktur, Text, Grafik und Programmierung machen wir hier im Team selbst, für die Übersetzungen arbeiten wir mit einem internationalen Journalisten-Netzwerk zusammen.

Wie finden Sie Ihre Projekte?

Matschinske: Die Idee für die Frauenrechte-App hatte zum Beispiel der Menschenrechtsexperte Swen Dornig, den wir privat kennen. Er hatte den Bedarf erkannt und wir haben gebrainstormt.

Und wer zahlt dann am Ende ein solches App-Projekt?

Schiele: Entweder die Institutionen oder die NGOs, die sie nutzen wollen – aber das ist eher selten. Häufiger geben Regierungen die Gelder. Beim Thema Menschenrechte sind zum Beispiel die Schweiz und Liechtenstein sehr engagiert.

Für welche Plattformen entstehen die Apps?

Schiele: Für IOS, Android und Blackberry. Letzteres ist zum Beispiel in Mittelamerika und Indonesien sehr verbreitet. Weltweit sind etwa ein Viertel der 25 Milliarden Handys Smartphones. In Afrika sind Handys zwar schon sehr verbreitet, aber nicht immer online. Wir müssen die Apps also auch für den Offline-Zugriff entwickeln. Eine unserer Apps gibt es ab Januar 2015 sogar dreisprachig: in Englisch, Französisch und Arabisch.Wir entwickelten eine Web-Plattform über die Deutsche Energiewende in acht Sprachen. Die Frauenrechts-App wurde schon in 92 Ländern runtergeladen.

Und wenn jemand nicht lesen kann?

Schiele: Für Gegenden mit hoher Analphabetenrate sind Audio- und einfache visuelle Elemente besonders wichtig. Wobei die Diskussion über die optische Gestaltung einer Frau unter Experten durchaus heikel ist und lange dauern kann: Mit Kopftuch oder ohne – und wenn ja, welches?

Arbeiten bei Lucid nur Männer?

Matschinske: Nein, die Frauen sind nur gerade im Urlaub (lacht).

Jan Schiele (l.) und Felix Matschinske (c) Julia Nimke

Jan Schiele (l.) und Felix Matschinske (c) Julia Nimke

Und wie bringen Sie dann Frauenrechte nach Afrika?

Schiele: Indem wir mit der App den Kern der Resolution 1325 heraus arbeiten. Frauen haben bei Friedensgesprächen großen Einfluss, weil sie tief in der Gemeinschaft verwurzelt sind und großes Interesse an einer Lösung haben. Deswegen arbeiten wir an einer App und einer Webplattform, die außerdem lokalen Medien, NGOs und Institutionen ausdruckbares Schulungsmaterial zur Weiterverbreitung durch Entwicklungshelfer oder Lehrer zur Verfügung stellen. Dazu entstehen 10-sekündige Filme mit Erzählstimme sowie Einzelbilder für die Weiterverbreitung durch Soziale Medien.

Arbeiten Sie nur im Bereich Menschenrechte?

Schiele: Nein. Wir haben für eine Stiftung das Projekt „Energytransition.de“ gemacht, das sich an die Allgemeinheit und Aktivisten weltweit richtet. In Südamerika beispielsweise denken viele Menschen, dass die „German Energiewende“eein Fake ist. Das kompakte Wort „Energiewende“ ist übrigens einmalig und wird weltweit auf Deutsch gebraucht, wie auch „Kindergarten“. Auf der Webplattform kann man alle relevanten Inhalte finden, ein Glossar und Grafiken für eigene Präsentationen. Die Informationen gibt es sogar auf Chinesisch. Wir können sie nur nicht lesen (lacht).

Herr Matschinske, Sie sind eigentlich Architekt. Was hat Hausbau mit Ihrer heutigen Aufgabe zu tun?

Matschinske: Am Anfang jedes Projekts steht die Frage: Was ist seine Essenz? Ich erstelle quasi den Bauplan für das jeweilige Projekt, die Denk- und Arbeitsweise ist also ähnlich. Auch Architekten bringen diverse Einflüsse zueinander, bei ihnen laufen die Fäden verschiedenster Gewerke zusammen. Das ist wie bei meinem heutigen Job auch, da fühle ich mich heimisch.

Räume der Agentur Lucid in einem ehemaligen Kuhstall in Berlin (c) Julia Nimke

Räume der Agentur Lucid in einem ehemaligen Kuhstall in Berlin (c) Julia Nimke

Was steht am Beginn der Zusammenarbeit mit einem Kunden gibt es für Sie eine Logline oder gilt „form follows function“?

Schiele: Die Expertise des Kunden ist der Kern. Ich kann beim Meeting im Deutschen Elektronen-Synchrotron nicht erzählen, wie es läuft – schließlich habe ich keine Ahnung von Partikelphysik. Wir sind keine Verkäufer sondern Wissensvermittler. Den Projektrahmen bieten dann die strategischen Maßgaben des Kunden. Und die Frage, wie viel Steuerung er leisten kann: Es hat keinen Sinn, ein Blog-Tool für 25 Redakteure zu entwickeln, wenn er nur Geld für einen hat. Wir fragen erst nach dem Thema, die Differenzierung folgt und am Ende steht ein Briefing. Für die Logo-Entwicklung vom Auswärtigen Amt ist das zum Beispiel kurz, für die historische Darstellung seiner Arbeit schon länger.

Gibt es auf Seiten des Kunden auch mal Überraschungen?

Schiele: Selten. Wenn dann über die visuelle Umsetzung. Bisher ist der Vierte Sektor nicht bekannt für schönes Design – es muss halt schnell gehen und günstig sein. Dort macht die Gestaltung das Marketing oder die Werbung und es gibt sehr begrenzte Budgets, da sind teure Anzeigen- oder Social Media-Kampagnen nicht möglich. Aber langsam setzt sich der Gedanke durch, dass Themen mit gesellschaftlicher Relevanz praktikabel und schön sein dürfen. Trotzdem: Keiner der Partner kann sich 40 verschiedene Vorschläge leisten.

Außer bei den Budgets – wo müssen Sie noch Kompromisse machen, wenn sie für den Vierten Sektor arbeiten?

Schiele: Manchmal von liebgewonnenen kreativen Ideen: Wir wollten bei dem Projekt zur Energiewende einen Rekurs auf die Romantik und beginnenden Industrialisierung machen und Caspar David Friedrich einbauen. Aber den kennt nicht jeder. Also flog er wieder raus.

Matschinske: Und bei Animationen muss man den Text sehr kurz halten: Eine halbe Seite Text ergibt eine Minute Animation. Wir brauchen immer das Expertenwissen, die Pressestelle als Ansprechpartner reicht da nicht. Wenn wir die Daten für ein 3D-Modell brauchen, hat die nur der Techniker. Und der muss sie vielleicht noch bearbeiten, weil in den Daten Firmengeheimnisse stecken.

Schiele: Große Unternehmen haben kürzere Projektlaufzeiten, aber mehr Abstimmungsschleifen mit jeweils eigenen Interessen. Damit muss man auch erstmal umgehen können. (lacht)

Und was passiert nach dem Ende eines Projekts?

Schiele: Wir machen uns vorher überflüssig (lacht). Wenn der Kunde in New York oder der Schweiz sitzt, kann man nur Sachen entwickeln, die der Kunde später mit seinem Netzwerk und open source-Lösungen selbst steuern kann.

Welche sind Ihre nächsten Projekte?

Schiele: Für unseren Kunden adelphi konzipieren und produzieren wir für die G7 eine Wissensplattform zum Thema “Environment, Conflict und Cooperation”. Unsere Arbeit ist seismografisch: Wir hatten schon zwei Jahre vor dem Debakel um de Maizière eine Anfrage zum Drohnenpark der Bundeswehr. Derzeit sind vor allem die Themen Außenpolitik, Emissionsberichterstattung, Umweltkonflikte und Demokratieentwicklung gefragt. Aber Menschenrechte sind ein Dauerthema. Das müssen sie auch sein.

 

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Kommunikations-Controlling, Evaluation und Eigen-PR. Das Heft können Sie hier bestellen.

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