Ambivalente Zeit

Rückblick auf das Corona-Jahr

Der „pressesprecher“ hat mich gebeten, etwas aufzuschreiben. 5.000 Zeichen oder so. Zu Corona – und was es aus uns macht. Schlimmer noch: was es aus mir macht. Als Kommunikator. Nah dran. Mit Beispielen. Am besten persönlich. Das wird nicht einfach.

Nah dran ist in diesen Zeiten Luxus. Manchmal kommt es mir vor, als wären wir alle zu austauschbaren Kacheln geworden; in einer nie enden wollenden Teams-Session. Wir zappen uns digital von Termin zu Termin – genau wie abends zu Hause von ARD zu ZDF und zurück. Wir sind Eremiten der Digitalisierung. Unsere Höhle nennen wir Wohnzimmer. Unsere Sandalen nennen wir Laufschuhe. Und unsere Kutte ist das, was wir heimlich unterm Tisch während der Videokonferenz tragen. Und all das nennen wir „New Normal“. 

Vielleicht werden in 50 Jahren, wenn Psychologen und Historiker mit dem Brennglas der Geschichte auf uns heute runterschauen, vielleicht werden dann genau diese Psychologen und Historiker von der Zeit der großen Vereinsamung sprechen, der Entfremdung und der Entmenschlichung. Von der Seuche, die zu den Menschen kam, die als Virus in den Köpfen endete und als Spaltpilz tiefe Gräben in die Gesellschaft zog. 

„Ihr werdet schlecht schlafen. Ihr werdet zunehmen. Ihr werdet Angst haben.“ Es war Ende März dieses Jahres, als die italienische Schriftstellerin Francesca Melandri diese Zeilen schrieb. Ein langer Brief an uns im noch recht sorglosen Deutschland direkt aus dem von Covid-19 bereits stark betroffenen Italien. In dem Brief steht, was sich alles für uns ändern wird. Es ist ein Blick aus ihrer Gegenwart in unsere Zukunft. Die Zeilen haben mich damals tief bewegt. Und ich denke heute noch oft an Melandris Worte.

Wenn der „Vamos“-Kinderreisen-Katalog so dünn ins Haus flattert wie das lokale Kirchenblättchen. Wenn der Paketbote täglich dreimal klingelt. Wenn die seltene Fahrt in die Stadt daherkommt wie die erste Fahrstunde oder sich der Lederschuh beim Anziehen so fremd anfühlt wie das erste Date, dann weißt du, dass Corona nicht nur das große Ganze, sondern jede Stunde deines Alltags verändert hat.

Mein Alltag ist einer. Viele Alltage sind eine Statistik. Und um die ist es nicht zum Besten bestellt in Corona-Deutschland: Wir trinken mehr. Wir rauchen mehr. Wir sind gewalttätiger geworden in den eigenen vier Wänden. Und die Sofas der Psychologen sind begehrter als damals die Liegen auf Mallorca. Die Geschichte wiederholt sich: Krisen und Kriege holen oft das Schlechte aus Menschen hervor. Der Firnis der Zivilisation wird dünner, je dicker die Probleme werden.

Hartmut Rosa sprach im Sommer in der „Zeit“ von einem kollektiven Burn-out. Einer „Art Mehltau, der sich auf unsere Wahrnehmungen legt und viele von uns auf unbestimmte Weise müde und träge macht“. Und andere auf unfassbare Weise wütend; die Reichstagstreppe des Oktober 2020 erzählt davon ihre eigene unschöne Geschichte.

Vermissen und wertschätzen

Vieles ist zerbrochen. Vieles werden wir kitten müssen. Man könnte zuweilen verzweifeln, wenn man vor den Scherben des Jahres 2020 steht. Aber auch nur dann, wenn man sich selbst den Blick auf das verstellt, was wir in dieser Zeit alles Neues ins Geschirrregal gepackt haben – oder was wir ganz hinten im Gerümpel wiederentdeckten und nach vorne holten.

Demut zum Beispiel. Oder Dankbarkeit. Darüber, dass selbst der unbequemste Stuhl im Homeoffice und der härteste Lockdown im Land besser sind als ein Bett auf der Intensivstation. Dass jeder digitale Kontakt besser ist als gar kein Kontakt. Dass es klingelnde Paketboten gibt genau wie drückende Lederschuhe. Dass wir in absehbarer Zeit wieder reisen können. Und wie sehr wir, wie Annabell Behrmann im „Hamburger Abendblatt“ so schön treffend schrieb, unsere „zweite Familie im Büro“ tatsächlich vermissen. Andersherum wäre es deutlich schlimmer.

Nicht nur vermissen und wertschätzen haben wir gelernt, sondern auch die Dinge neu zu denken – und mutiger zu sein, als wir je waren. Vor allem im Job. Hätte einer mir vor einem Jahr gesagt, dass digitale Pressekonferenzen genauso gut funktionieren wie ihr reales Pendant, ich hätte ihn lachend weggeschickt. Hätte man mir gesagt, dass ich künftig neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über Wochen an Bord hole, ohne sie einmal gesehen zu haben, ich hätte ihn einweisen lassen. Hätte mir einer gesagt, dass ich Kindergärtner, Krankenpfleger, Lehrer, Koch, Putzmann und zugleich Kommunikator sein kann: Wie bitte sollte das gehen? Und es ging eben doch.

Mut zum Unmöglichen, Wissensdurst, Erfindungsgeist und Anpassungsfähigkeit haben uns in den letzten 300.000 Jahren alles überstehen lassen. Wir wären sonst schlicht nicht mehr hier. Gemeinsam mit Demut, Dankbarkeit und Zusammenhalt haben sie uns zu dem geformt, was wir heute sind: den Menschen. All das sollte unser Rezept auch für diese Krise sein. Persönlich, zu Hause, im Job, in der Zivilgesellschaft.

Auszeiten im Homeoffice

Jens Spahn hat vor Kurzem gesagt: „Wir werden in ein paar Monaten einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen.“ Sorgen wir dafür, dass das nicht allzu viel werden muss. Seien wir dafür achtsam mit uns selbst. Nicht nur die Hände brauchen ein Hygienekonzept, sondern auch das Hirn. Genehmigen wir uns die Auszeiten im Homeoffice, die es braucht, den Kopf sauber zu halten. Seien wir gütig miteinander. Wedeln wir nicht ständig alle um uns weg, nur weil wir meinen, im wichtigsten Call der Welt zu stecken. Freuen wir uns, dass wir mit unseren Liebsten sein können. Achten wir auf unsere Kolleginnen und Kollegen. Das Homeoffice spielt für viele auch mal im tiefsten Moll. Denn die Videokonferenz wird niemals das Lagerfeuer ersetzen. Die Kachel in Teams nie das echte Miteinander. Und vor allem: Geben wir nicht denen die Kontrolle, die uns spalten wollen.

Wenn ich einen Wunsch für das nächste Jahr habe, dann dass die Wissenschaftler oben in 50 Jahren anders auf uns schauen, als man in dunklen Stunden befürchten mag. Sie sollen sagen, dass wir ein wenig weiser und achtsamer, ein Stückchen gütiger und stärker aus dieser Krise gingen, als wir hineinschlitterten. Und vor allem: menschlicher. „Wie werden wir gewesen sein?“, fragt der ältere Herr im Spot „Besondere Helden“ der Bundesregierung, der sich in ferner Zukunft zurückerinnert an diesen Winter des Jahres 2020. Wir wissen es nicht. Aber wir hoffen: gut. Und war es noch nicht gut, dann ist es schlicht noch nicht das Ende.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe DAS CORONA-JAHR. Das Heft können Sie hier bestellen.

Weitere Artikel