Willkommen im Digital Detox Camp

Internetsucht, ade!

Wie lange ist es her, dass Sie zum letzten Mal auf Ihr Handy geblickt haben? Keine zehn Minuten, wie so oft? Dann haben Sie sich soeben selbst bewiesen, dass auch Sie eine Tendenz zu „problematischem Internet- und Handykonsum“ aufweisen. Nicht weiter schlimm, denken Sie? Gut, dann die nächste Frage: Sind Sie gerade im Büro oder zuhause? Denn sollten Sie gerade arbeiten – die Betonung liegt hierbei auf „Sie sollten doch eigentlich…“ – dann vergegenwärtigen Sie sich doch einmal folgende Zahlen: 588 Milliarden US Dollar Wirtschaftsschaden jährlich in den USA, in Deutschland geht der Schaden ebenfalls bereits in die Milliarden – verursacht allein durch Ablenkung am Arbeitsplatz, durch verpuffte Energie oder besser gesagt: Durch Whatsapp, Facebook, Amazon und Co., durch den ständigen Smartphone-Check und privates Surfen. Gigantische (Un-)Summen, die jedem Betriebswirtschaftler die Tränen in die Augen treiben.

Sie fühlen sich schuldig im Sinne der Anklage? Nun, zumindest sind Sie nicht allein. Studien zufolge verplempern wir alle während der Arbeitszeit durchschnittlich 2,1 Stunden am Tag mit Online-Anwendungen. In Anbetracht der Folgen eigentlich ein Skandal für jedes Unternehmen, und auch für den Einzelnen wird die schiere Masse an Informationen, der man sich ununterbrochen aussetzt, auf Dauer zum Problem: Konzentrationsunfähigkeit, Internetsucht und schließlich Burn-Out heißen die Schreckgestalten, die der Gesundheit mehr und mehr zu Leibe rücken. Was läge da also näher, als dieser Entwicklung schnellstmöglich einen Riegel vorzuschieben? Am besten systematisch, von Grund auf.

Eine Lösung trägt den Namen Digital Detox oder auch Offline Camp und stammt ursprünglich aus den USA. Das Potenzial, diese Idee nun an die speziellen Bedürfnisse des deutschen Marktes anzupassen, hat zuerst Ulrike Stöckle erkannt. Ende 2014 hat sie das erste Digital Detox Camp in Deutschland gegründet, ihre Workshops und Inhouse-Seminare richten sich an Internet-Junkies, engagierte Personaler und all die, denen moderne Unternehmenskommunikation ein Anliegen ist.

Frau Stöckle, inzwischen können sie sich vor Anfragen kaum noch retten, oder?

Ulrike Stöckle: Es ist unglaublich, die Presseresonanz ist riesig, zurzeit gebe ich etwa einmal wöchentlich Interviews. Wir müssen inzwischen kaum noch Werbung machen, viele Unternehmen kommen direkt auf uns zu. Anfangs haben wir große Firmen angeschrieben wie SAP oder Facebook, die schon von Haus aus dauer-online sind, außerdem Unternehmen, die bereits aktiv etwas gegen den übermäßigen Internetkonsum der Mitarbeiter tun wie Sixxt, Mercedes Benz oder Volkswagen. In bestimmten Abteilungen wird dort ab 18 Uhr der Server abgeschaltet, man erhält also keine Geschäfts-Emails mehr – einer Überlastung wird dadurch vorgebeugt.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen ein Offlinecamp zu gründen?

Ich war selbst betroffen, habe ständig Mails gecheckt und irgendwann mit Schrecken realisiert: Ich kann eigentlich gar nicht mehr herunterfahren. Im Netz bin ich dann auf Offlinecamps in Silicon Valley gestoßen. Das fand ich großartig. Deswegen habe ich sofort Kontakt mit den Initiatoren aufgenommen und mein eigenes Netz-Verhalten grundlegend verändert. Das Feedback meiner Umgebung war durchgehend positiv, viele meinten, sie wären ebenfalls Internet-abhängig und dass ihnen digitales Entschlacken, also Digital Detox, auch gut tun würde. Seitdem merke ich immer mehr: Der Bedarf ist da, es ist wirklich ein Riesenthema. Denn die Tendenz zur Selbstüberforderung und damit zum Burnout wird immer größer.

Woran genau liegt das?

Man ist heutzutage ständig erreichbar, 24/7, viele Manager kennen die Trennung von Beruf und Privatleben gar nicht mehr, jeder meint, er sei unersetzlich, unabkömmlich. Ich war im Zuge meiner Recherchen auch in Kliniken und habe mich intensiv mit Burn-Out Patienten unterhalten. Da kam ganz klar heraus: Es war das permanente Fordern, das die Leute krank macht. Hier den Schalter umzulegen, dass fällt vielen enorm schwer. Denn wir sind auf schnelles Antworten konditioniert, kaum kommt eine Mail rein, schon will man sie beantworten. Das ist wirklich ein Unding.

Was ist daran so verkehrt?

Das Fatale daran ist, dass man in Wirklichkeit nicht mehr, sondern weniger leistet beziehungsweise leisten kann. Ganz einfach, weil die Energie nicht mehr fokussiert ist, die Leute verzetteln sich immer mehr. Das Tempo, mit denen Informationen an uns vorbeirauschen, sowohl im Büro als auch privat, nimmt immer mehr zu. Deswegen sollte man das Reduzierte, das Entschleunigte wieder viel mehr schätzen lernen. Erst wenn der Mensch abschalten kann, lädt er seine Reserven wieder auf. Es gibt Menschen, die öffnen 140mal am Tag ihr Handy, und das wird erschreckenderweise immer mehr zum Durchschnitt.

Wie bemerken Arbeitgeber, dass etwas falsch läuft?

Es gibt Unternehmen, die sperren bestimmte Seiten ganz bewusst von vorn herein, außerdem gibt es Spionage-Programme, die anzeigen, wo die Mitarbeiter surfen. Aber das ist natürlich nicht modern. Produktivität im Unternehmen kann man zudem messen. Personaler in größeren Unternehmen haben exakte Auswertungen vorliegen. Wenn sie merken, dass die Fehlzeiten zunehmen und die Krankheitsfälle sich häufen, dann müssen sie sich schon fragen: Warum ist das so? Viele sind inzwischen davon überzeugt, dass bei der digitalen Nutzung von Geräten etwas in eine ganz falsche Richtung läuft. Der Mitarbeiter selbst macht das in den wenigsten Fällen vorsätzlich, ihm ist gar nicht bewusst, dass er seinem Arbeitgeber buchstäblich Zeit raubt. Deswegen muss ein Bewusstsein erst geschaffen und dann geschärft werden.

Worauf legen Sie bei den Offlinecamps und Inhouse-Seminaren besonderen Wert?

Am Anfang gibt man Handy und Laptop ab, denn man soll ja lernen, offline zurechtzukommen. Dann folgt eine ausführliche Anamnese. Jeder schildert, wie er seine digitalen Geräte nutzt und in welchem Kontext. Dann schätzt man sein Online-Verhalten anhand einer Skala ein, man soll sich selbst fragen: Wie abhängig fühle ich mich? Dieser Analyseprozess spielt auch bei unseren Inhouse-Veranstaltungen eine wichtige Rolle. Wir geben Fragebögen aus und raten den Leuten, sich eine App herunterzuladen, etwa menthal app. Die misst das eigene Smartphone-Verhalten. Dann realisieren viele, dass sie wahnsinnig viel Zeit auf whatsapp oder bei Facebook verbringen. Die Ergebnisse analysieren wir dann und sprechen mit jedem Einzelnen. Für die Unternehmen entwickeln wir individuelle Lösungen.

Wieso fällt vielen die Umsetzung so schwer?

Die Antwort lautet ganz einfach: Gewohnheit. Es ist dasselbe wie etwa mit der Ernährung. Man muss das trainieren und zwar regelmäßig, deshalb begleiten wir die Firmen auch über einen längeren Zeitraum. Oft sehen Unternehmen vorher nur die Spitze des Eisberges, wir zeigen den Rest.

Ab wann kann man von Internetabhängigkeit und Sucht sprechen?

Jemand, der drei, vier Stunden am Tag online ist, der hat schon ein Problem – und das geht schneller, als man denkt. Allein das Handy für ein paar Stunden abzuschalten, fällt vielen sehr schwer und ist schon ein ungutes Anzeichen. Extrem wird es, wenn Personen, die keine Internetverbindung haben, kalte Schweißausbrüche bekommen. Mir ging es ja auch so: Wenn ich etwa ein Hotelzimmer gebucht habe und das W-Lan ging nicht, dann wurde ich schon stinkig. Wut oder auch Angst kommen hoch, verbunden mit körperlichen Reaktionen. Wenn es so weit gekommen ist, dann kann man schon von Entzugserscheinungen und Sucht sprechen. Es verhält sich hierbei erstaunlicherweise genauso wie mit vielen anderen Süchten auch: Wenn man auf Facebook etwas postet und dann sieht, dass etwas geliked wurde, dann wird im Gehirn genau die Zone belohnt, die bei einem Nikotinsüchtigen oder Alkoholsüchtigen stimuliert wird, wenn er raucht oder trinkt. Auch das „Phantom-Greifen“ ist weit verbreitet: Eine Seminarteilnehmerin beispielsweise hatte das erste Mal seit acht Jahren ihr Handy ausgeschaltet und dann ständig an ihre Hosentasche gegriffen. Es hat wirklich länger gedauert, bis sie diesen Automatismus überwunden hat.

Wie sehen konkrete Gegenmaßnahmen aus?

Wir empfehlen Öffnungszeiten für Emails, zum Beispiel dreimal am Tag, das reicht vollkommen. Bei der Beantwortung sollte man sich immer überlegen: Ist diese Mail wirklich notwendig? Wir machen dann kleine Spielchen, etwa: Eine Woche lang darfst du am Tag nur 15 Emails schreiben, wenn du mehr schreibst, dann musst du etwas in die Kasse geben. Ein weiterer Tipp für Personaler ist, dass man während der Urlaubszeiten eine Einstellung am Mail-Account vornimmt, die eingehende Emails mit der Meldung beantwortet: „Alle Mails werden automatisch gelöscht und nicht gelesen. In dringenden Fällen wenden Sie sich bitte an meine Urlaubsvertretung“. Auf diese Art und Weise signalisiert man: Hier gibt es kein Durchkommen. Das schützt den Mitarbeiter auch vor sich selbst: Denn oft ist es so, dass man im Urlaub doch mal seine Mails checkt. Auch eine to do-Liste am Morgen hilft schon sehr viel: Man überlegt sich in Ruhe, was an diesem Tag wichtig ist und priorisiert die Aufgaben. Das hat den Vorteil, dass man agiert und nicht nur reagiert. Private Handys sollte man in der Arbeit zudem prinzipiell auf lautlos oder gleich ganz ausschalten.

Die Übeltäter heißen also Smartphone, Tablet und Notebook, seit kurzem auch Apple Watch und Co. Und die Extremform, die Internet-Sucht, ist inzwischen so weit verbreitet, dass Schätzungen zufolge zwischen 0,5 und 2,5 Millionen Deutsche davon betroffen sind, Tendenz rasch steigend. Zeit, etwas dagegen zu unternehmen.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Liebe – Wie viel Passion braucht die Profession?. Das Heft können Sie hier bestellen.

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