Viktor Mayer-Schönberger über die Macht der Daten

Herr Professor Mayer-Schönberger, die Zahl der gespeicherten Datenmengen hat sich in der vergangenen Dekade exponentiell gesteigert. Befinden wir uns bereits in einer Diktatur der Daten?

Viktor Mayer-Schönberger: Nein, das glaube ich nicht. Aber ich glaube, dass immer mehr Unternehmen, Organisationen und auch Regierungen erkennen, wie mächtig das Werkzeug Big Data ist, und beginnen, es zu verwenden. Wie jedes mächtige Werkzeug ist Big Data weder gut noch böse, aber es besteht die Gefahr des Missbrauchs. Das bedeutet, dass wir einen ethischen Rahmen für Big Data brauchen – genau wie für die Gentechnologie oder die Kernkraft auch. Es bedeutet aber auch, dass dieser einmal eingeschlagene Weg nicht mehr umkehrbar ist.

Dann ist der freie Wille noch nicht verschwunden?

Der freie Wille ist dann verschwunden, wenn wir in Zukunft die Big Data-Analyse immer weiter missbrauchen – und zwar für Ursachenforschung. Wenn wir glauben, dass wir damit mehr erkennen können, als es eigentlich der Fall ist.

Führt ein solches Verhalten zu selbsterfüllenden Prophezeiungen?

Wenn die Polizei sich entscheidet, jemanden abzuholen, da sie aufgrund von Daten eine Straftat voraussieht, ist das schlimm, weil man dessen Unschuld dann gar nicht mehr nachweisen kann. Auch der junge Mann, dem die KFZ-Versicherung versagt wird, weil er aufgrund der Statistik vorgeblich unfallhäufiger fahren wird, hat nicht die Chance, das Gegenteil zu beweisen.

In Ihrem Vortrag sprachen Sie auch von Demut. Inwiefern sollten wir im Umgang mit den Datenmassen demütiger sein?

Ich sprach von Demut im doppelten Sinne: Einerseits erkennen wir mit Big Data, wenn wir es richtig einsetzen, dass wir viel weniger von der Welt wissen, als wir glaubten. Zudem müssen wir Big Data demütig einsetzen, insofern dass wir immer einen Freiraum für das zutiefst Menschliche schaffen, etwas das der Computer nicht kann. Das, was uns auszeichnet: das Verrückte, das Kreative, das Spielerische, das Irrationale. Nur so wurde das Auto erfunden – und nicht eine schnellere Pferdekutsche.

Ist das Vergessen eine Tugend?

Ja, das ist es. Weil es unser Gedächtnis vom Erinnerungsmüll befreit, der für uns nicht mehr relevant ist.

Obwohl sich nach wie vor viele Menschen über soziale Medien, Blogs und Co. ganz bewusst im digitalen Gedächtnis verewigen, wird auch der Ruf nach Löschungen lauter. Google ist nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum „Recht auf Vergessenwerden“ im Sommer immerhin einen kleinen Schritt in diese Richtung gegangen. Glauben Sie, es gibt in Zukunft ein Umdenken hin zu mehr digitalem Vergessen?

Ja, ich glaube, der Prozess hat schon begonnen. Der Fakt, dass heute – gerade bei den jungen Menschen – dutzende Millionen täglich Snapchat verwenden und nicht Facebook, spricht für die Wahl eines vergessenden Werkzeugs, um miteinander zu kommunizieren. Dabei geht es gar nicht darum, ob die Inhalte technisch tatsächlich gelöscht sind oder nicht, sondern darum, dass meine Freunde und ich darauf keinen Zugriff mehr haben, sie vergessen können.

 

 

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