Warum Clarissa Haller Kontrolle abgibt

Interne Kommunikation bei Siemens

Machen wir uns nichts vor. Aus kommunikativer Sicht sind Mitarbeiter auch nicht mehr so pflegeleicht, wie sie einmal waren. Will sagen: sie waren schnell zufriedenzustellen, genügsam, anspruchslos beinahe. Gerade Abteilungen für interne Kommunikation in Großkonzernen können davon ein Lied singen. Für sie geht es zunehmend um Fragen wie diese: Was interessiert unsere Mitarbeiter? Was wollen sie lesen? Welche Art von News wollen sie auf welche Art und Weise konsumieren? Aber auch: „Interessiert sich überhaupt noch jemand für die Unternehmens-Propaganda?“, wie Clarissa Haller augenzwinkernd anfügt.

Haller ist Kommunikationschefin bei Siemens. Mit 386.000 Mitarbeitern in mehr als 200 Standorten und Regionen weltweit ist das Unternehmen ein Dickschiff unter den global operierenden Mischkonzernen. Seit ihrem Amtsantritt vor zwei Jahren fahndet sie nach Antworten. Um gezielter auf die Bedürfnisse der Kollegen eingehen zu können, baut sie derzeit ein Analytics-Team auf. Es soll die Kommunikationsabteilung in die Lage versetzen, exaktere Antworten auf Fragen wie diese zu finden: Welche Mitarbeiter gelangen von woher auf die Webseiten? Wonach suchen sie? Mit welchen Themen beschäftigen sie sich gern? Darauf soll mit dem passenden Content reagiert werden.

Seit ein paar Monaten wird dazu an einem Pilotprojekt gefeilt. „Coffee Mug“ („Kaffeebecher“) ist ein personalisierter Feed im Siemens-Intranet, der sich auf Vorlieben einrichten lässt. Im Kern geht es darum, dass Mitarbeiter Themen und Autoren abonnieren können, die sie inspirieren und interessieren. So können sie sich mit einer gefilterten Dosis Neuigkeiten versorgen lassen – ob fünf Minuten, einmal, zweimal oder mehrmals am Tag, ist ihnen überlassen. Indem jeder Mitarbeiter auch Autor werden darf, kann jeder so de facto zum Influencer werden. Auf internen Plattformen können sich dann gleichgesinnte Kollegen austauschen. Das Prinzip erinnert unter anderem an Reddit, einen Social-News-Aggregator, wo registrierte Nutzer Inhalte einstellen können.

„Coffee Mug“ fuße auf viel künstliche Intelligenz, sagt Haller. Zurzeit lernt das System noch. „Es wird noch eine Weile dauern, bis wir live gehen können. Wir wollen keine Frustration erzeugen. Unsere Mitarbeiter sollen nicht das Gefühl haben, das neue Instrument sei nur eine irgendwie neue Homepage. Und für uns Kommunikatoren geht es darum, das interne ‚Ökosystem‘ zu verstehen.“

CEO Joe Kaeser als Vorbild

Bevor die veränderungsaffine Deutsche 2016 von Credit Suisse zu Siemens wechselte, hatte dort übrigens eine rigide interne Policy gegolten: Wer sich als Mitarbeiter auf Social Media über Siemens äußerte, hatte ein recht strenges Reglement zu beachten. Die Darstellung nach außen war Aufgabe der Presseabteilung. Punkt.

„Aber was für ein Potenzial habe ich denn, wenn bis zu 386.000 Mitarbeiter verkünden, dass Siemens ein toller Laden ist? Es wäre dumm, würden wir uns das nicht zunutze machen“, sagt Haller. „Nein, wir wollen, dass unsere Mitarbeiter nach außen hin wirksam sind für Siemens.“

Mitarbeiter zu Corporate Influencer zu machen, ist zwar kein exklusiver Gedanke. In einem in vielerlei Hinsicht tradierten Unternehmen wie Siemens gleichwohl mutet eine solche Evolution der Gewohnheiten wie eine kleine Revolution an. CEO Joe Kaeser – nicht erst seit seinem AfD-kritischen Tweet Mitte Mai weithin wahrnehmbar auf Twitter und Linkedin aktiv – habe eine wichtige Vorbildrolle.

Fakt ist, dass Haller mit dem Weg, den sie im Konzern eingeleitet hat, ein bedeutendes Gut teilweise aus der Hand gibt: Kontrolle. Dies zuzulassen und Kommunikation stattdessen zunehmend zu moderieren, falle ihr persönlich sehr leicht, behauptet die 51-Jährige: „Weil ich überzeugt bin, dass wir extrem davon profitieren werden. Kontrolle abzugeben bedeutet nämlich, die Diskussion zuzulassen. Und das ist es ja, was wir wollen: einen offenen Dialog. Wenn man diesen Dialog ermöglicht, schafft man Relevanz, Reichweite und Engagement.“

Langweil mich nicht!

Die Zeiten, in denen Kommunikationsabteilungen bestimmt haben, wie der Newsflow laufe, seien sowieso vorbei, meint Haller. „Mir ist es dann aber lieber, dass der Traffic zu unternehmensbezogenen Themen auf unseren Plattformen stattfindet.“ Starke Veränderungen in der internen Kommunikation seien für Siemens kein Selbstzweck. „Sondern es ist eine absolute Notwendigkeit, dass wir anders miteinander kommunizieren und arbeiten. Wir müssen schneller werden. Wir müssen verinnerlichen, Dinge auch mal anders anzugehen und, ja, dabei auch Fehler machen zu dürfen – im geschützten Bereich.“

In der Vergangenheit habe man sich darauf verlassen, dass Mitarbeiter bestimmte Unternehmensbotschaften zumindest zur Kenntnis nahmen. Motto: Was aus der Kommunikationsabteilung kommt, wird schon irgendwie wichtig sein. Doch die generelle Grundhaltung habe sich geändert, nicht zuletzt aufgrund der Fülle an Botschaften und der Schnelllebigkeit von Informationen. „Heute müssen wir Relevanz sicherstellen. Wir müssen auf den Punkt kommunizieren und verstehen lernen, was unsere Mitarbeiter interessiert. Die Devise lautet: ‚Langweil mich nicht!‘“

Weltweit betreibt Siemens mehr als eine Million Intranetseiten. Von denen werden jedoch nur 30 Prozent angeklickt. „Wir haben leider in hohem Maße Content, der nicht interessiert – oder der nicht gefunden wird. Die Frage ist doch, ob man die Ressourcen, die für die Gestaltung dieser Seiten aufgewandt werden, nicht besser nutzen kann. Interessanten Content zu kreieren, der auch gefunden wird: Das schaffen wir, indem wir unsere Mitarbeiter dazu befähigen und ermuntern, selbst zu kommunizieren, aus den Analytics lernen und alles in der richtigen Plattform zusammenführen.“

Karteileichen im Intranet

Eine Schwierigkeit besteht indes darin, mehrere Generationen gleichzeitig kommunikativ abzuholen. Den über 60-Jährigen, der morgens Tageszeitung liest und täglich um 20 Uhr die „Tagesschau“ einschaltet, ebenso wie die 20 Jahre alte angehende Führungskraft, „die E-Mail als Spam empfindet und auch kein Telefon mehr will, weil sie findet: Jederzeit gestört werden – wie doof ist das denn?“, sagt Haller und lacht.  

Dass die Kommunikationschefin bei ihren Umbaumaßnahmen in den Kommunikationsstrukturen eines mehr als 150 Jahre alten Hauses intern auch auf Widerstände trifft, sollte nicht verschwiegen werden. Kritiker, die den „Kontrollverlust“ skeptisch sehen und das Credo „Social Media für alle“ für Gedöns halten, gibt es natürlich ebenso wie jene, die „Hurra, endlich!“ rufen.

Clarissa Hallers Schlüssel für alles lautet: Die Menschen sollen verstehen, dass sie etwas gewinnen.

Hinweis: In einer früheren Version dieses Textes hieß es, Mitarbeiter hätten sich vor dem Wechsel Clarissa Hallers zu Siemens auf Social Media nicht über ihren Arbeitgeber äußern dürfen. Das ist so nicht richtig und wurde korrigiert.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe ALLES AUF ANFANG. Das Heft können Sie hier bestellen.

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