Krisenkommunikation: Merkel und die „wilden Kerle“

Egomacher-Kolumne

Die Flüchtlingskrise zeigt die mangelnde Innovationskraft der europäischen und ganz besonders der deutschen Politik auf. Das Problem ist seit Jahren bekannt. Jahr für Jahr, Monat für Monat und Woche für Woche spielten sich Dramen vor unseren Augen im Mittelmeer ab. Doch statt an Lösungen zu arbeiten, haben die Staatenlenker die Not der Menschen kollektiv verdrängt. Als die Flüchtlinge sich auf den Marsch durch Europa machten, stellte sich Angela Merkel an die Spitze einer neuen Willkommenskultur. Außenpolitisch erkannte sie die zwingende Notwendigkeit. Innenpolitisch wollte sie ihrem sozialdemokratischen Koalitionspartner das Feld nicht überlassen. Persönlich handelte sie nach ihrem Werteverständnis als Christin. Für ihre Entscheidung gab es damals viel Lob. Doch der Wind hat sich schnell gedreht.

Die Silvesternacht von Köln und der Umgang mit den Vorfällen haben unser Land verändert. In der Zwischenzeit haben die benachbarten Staaten Zäune aufgebaut, Obergrenzen beschlossen und das Schengener Abkommen vorübergehend außer Kraft gesetzt. Mit diesen und vielen anderen Forderungen trieben Horst Seehofer und zahlreiche Abgeordnete aus CSU und CDU die Kanzlerin vor sich her. Angela Merkel wurde auf offener Bühne vorgeführt. Eine Opposition sammelte sich in der eigenen Partei und statt miteinander zu sprechen, wurden Briefe ans Bundeskanzleramt gesendet.

In der Zwischenzeit versuchte Sigmar Gabriel, eine Linie für seine Partei zu finden. Die SPD besetzte mal linke und mal rechte Positionen, um sie in kürzester Zeit wieder zu verwerfen oder zu verwässern. Alle politischen Kräfte der Koalition verkündeten stündlich neue Vorschläge. Ein völlig neues Demokratieverständnis innerhalb einer Regierung war entstanden: Jeder konnte jederzeit seine Meinung in die Welt tragen. Und jeder konnte jeden nach Belieben angreifen. Klare Zuständigkeiten gab es nicht mehr. Es waren die Wochen der „wilden Kerle“.

Und die Medien?

Die Journalisten feierten bereits den Abgesang auf die Bundeskanzlerin. An ihrem Satz „Wir schaffen das!“ wurde sie nun gemessen. Eine richtige Einschätzung der Pressevertreter, denn das „Wie?“ stand im Raum und die Bevölkerung wartete auf eine Erklärung. Die Psyche des Menschen ist in diesem Punkt sehr empfindlich. Der Mensch kann eine (Auf-)Forderung ohne eine wirkliche Begründung nur sehr schwer annehmen. Dieses Phänomen kennen wir aus unserer Kindheit: Der Satz „Mach Deine Hausarbeiten!“ verfehlte seine Wirkung meistens vollständig, weil eine Begründung fehlt. Hingegen der Satz „Mach Deine Hausarbeiten, weil wir in einer Stunde einkaufen gehen“ erzeugt beim Kind eine ganz andere Wirkung. Es liegt eine klare Zeitbestimmung vor. Und nach den Hausarbeiten gibt es eine aktive Handlung, in der das Kind sogar Einfluss auf den wöchentlichen Einkauf der Familie nehmen kann.

Auch wir Erwachsenen wollen immer mit einer Begründung angesprochen und überzeugt werden. Stellen Sie sich vor, Sie stehen in einer langen Schlange vor einem Fahrkartenautomat am Hauptbahnhof und eine Person fragt Sie: „Lassen Sie mich vor?“ Sie werden verneinen, da Sie schon viel länger warten und dies als ungerecht empfinden. Eine andere Person kommt auf Sie zu und fragt: „Können Sie mich vorlassen? Ich muss unbedingt den letzten Zug nach Hause erreichen, der in fünf Minuten fährt.“ Sie willigen ein, weil Sie die Dringlichkeit erläutert bekommen haben.

Ohne schnelle Begründung keine schnelle Lösung

Doch in der Politik und ganz besonders in so schwierigen Fragestellungen wie in diesem historischen Fall gibt es keine schnellen Lösungen wie am Fahrkartenautomaten – und somit auch keine schnellen Begründungen. Die sehr einfachen und populistischen Begründungen, bis hin zum Schießbefehl an den deutschen Grenzen, sind nicht nur dumm, sondern brandgefährlich. Damit hat die AfD den Boden des Grundgesetzes verlassen. Humanität und Demokratie werden in dieser Partei mit Füßen getreten.

Daher war die Herausarbeitung der Kompromisslinie durch das Bundeskanzleramt so wichtig, auch wenn diese Einigung viel Zeit gekostet hat. Die Fakten zur Erläuterung des „Wie?“ müssen stehen und vermittelbar sein. Ohne substanziellen Inhalt kann man kommunikativ nicht überzeugen. Vielmehr ist bei jedem Problem an der Zielerreichung zu arbeiten. Schon der römische Philosoph Seneca wusste um 50 nach Christi Geburt, dass ein Ziel in drei Teile zu zerlegen ist.

Der Dreiklang eines Ziels besteht aus:

  • „Wollen: Das Ziel muss angestrebt werden.
  • Können: Das Ziel muss erreichbar sein.
  • Wagen: Das Ziel muss verfolgt werden.“

Für diesen Dreiklang aus „Wollen, Können und Wagen“ braucht es Mut und langfristig politische Mehrheiten. Der Historiker Ulrich Schlie schrieb, dass „Mut und Charakter die wohl wichtigsten Schlüssel zur politischen Führung“ seien. Er bezog sich bei seiner Ausführung nicht auf Angela Merkel, sondern auf den ehemaligen Reichskanzler Otto von Bismarck. Und doch könnten diese beiden Eigenschaften nun auch der Bundeskanzlerin zugesprochen werden.

Kein Mann in ihrer Position hätte die Demütigung von Horst Seehofer auf offener Bühne und der eigenen Partei so hingenommen. Ihr Vorgänger Gerhard Schröder hätte seine „Basta-Methode“ herausgeholt. Im Gegensatz dazu hat Angela Merkel klug abgewartet und die Bismarck‘sche Grundsatz „Politik ist die Kunst des Möglichen“ angewendet und weiter an ihrer Zielerreichung gearbeitet.

Im ersten Schritt hat Merkel mit ihrem Chef im Bundeskanzleramt, Peter Altmaier, der den Strategien von Bismarck nahe steht, eine sorgfältige Analyse der verschiedenen Interessenlagen und der jeweiligen Rechtslage vorgenommen. Im zweiten Schritt wurde die Einbindung von Horst Seehofer und Sigmar Gabriel vorgenommen. Und Drittens wurde eine gewisse Überrumpelung mit eigenen Frontwechseln vollzogen. Am Ende stand der schnelle Fait accompli des Asylpakets 2.

Kritik richtig aushalten

Ein guter Innovationsmanager braucht auch die Ruhe und Geduld, um Auseinandersetzungen und Kritik auch an seiner eigenen Person auszuhalten. Am Ende wird ein erfolgreicher Staatslenker oder Manager daran gemessen, ob er neue Lösungsvorschläge präsentieren kann. Der US-amerikanische Ökonomieprofessor Peter F. Drucker hielt diese besondere Fähigkeit in einem Satz fest: „Was alle erfolgreichen Menschen miteinander verbindet, ist die Fähigkeit, den Graben zwischen Entschluss und Ausführung äußerst schmal zu halten.“

Innenpolitisch hat Merkel die Große Koalition wieder auf Kurs gebracht. Außenpolitisch ist sie nun gefragter, denn je. Es braucht internationale Abkommen zur Bewältigung der Flüchtlingsproblematik und der vorhergesagten Völkerwanderungen im 21. Jahrhundert.

Der Historiker der Universität Passau, Hans-Christof Kraus, betrachtet besonders das politische Verhandlungsgeschick des „Eisernen Kanzlers“: „Bismarcks Größe als Politiker ist gewiss auch darin zu sehen, dass es ihm fast immer gelungen ist, gerade die besonders wichtigen Persönlichkeiten, die regierenden Monarchen, in ihrer jeweiligen Eigenart wahrzunehmen, sie zutreffend einzuschätzen.“ Jetzt liegt es an den zutreffenden Einschätzungen der mächtigsten Frau, ob sie ihre Amtskollegen richtig einschätzt, und es ihr auch international gelingt, mit ihrem Verhandlungsgeschick die wirklichen Ursachen aus Krieg, Terror, Armut und Klimawandel der heutigen und zukünftigen Flüchtlingsbewegungen langfristig zu bekämpfen. Hierfür braucht es keine „wilden Kerle“, sondern kluge Diplomaten, die an langfristigen globalen Lösungen arbeiten.

Und Sie als Kommunikator?

Haben Sie Ihre Ziele fest im Blick? Können Sie Ihre Ziele vermitteln? Wie gehen Sie mit Anfeindungen um? Vertrauen Sie jederzeit auf sich und Ihre Fähigkeiten? Welche Strategie setzen Sie für Ihre Zielerreichung ein? Lesen Sie dazu das Kapitel „Ziele bestehen aus Wollen, Können und Wagen“ in Der EGO-Macher oder schauen Sie sich die Instrumente zur Zielerreichung unter www.der-ego-macher.de an.

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