"Behinderung kann auch ein Lifestyle sein"

Raúl Aguajo-Krauthausen

Raúl Aquajo-Krauthausen ist flink unterwegs – sein Rollstuhl kann ganz schön heizen. Auf einmal steht er vor einem, hier in der Caféteria der Berliner Firmenzentrale von Immobilienscout24, wo Krauthausen und die von ihm gegründeten „Sozialhelden“ ihr Büro haben. Krauthausen sollte nichts gegen den Verweis auf die Fahrtüchtigkeit seines Rollstuhls haben, denn das ist es ja, wofür der Mann steht: den unverkrampften Blick auf Menschen mit Behinderung. Nein, er ist nicht „gefesselt“ an den Rollstuhl, betont er immer wieder, vielmehr bedeute das Gefährt für ihn Freiheit. Und eben auch „Lifestyle“.
Ein typischer Krauthausen, möchte man zu dieser Formulierung sagen. Denn der 1980 in Lima geborene und in Deutschland aufgewachsene Mann liebt es, in Interviews Gewissheiten über Menschen mit Behinderung, also Menschen wie ihn, ins Wanken zu bringen. 2004 suchte Krauthausen über einen Radiosender einen Super-Zivi für sich, aus der erfolgreichen Casting-Aktion entstanden die „Sozialhelden“, die er mit seinem Cousin gründete. Der gemeinnützige Verein kämpft seitdem mit diversen Projekten und vielen Ehrenamtlichen dafür, Menschen für das Thema Inklusion zu sensibilisieren. Auf leidmedien.de zum Beispiel finden Medienmacher Anleitung, wie sie Fettnäpfchen beim Schreiben und Sprechen über Menschen mit Behinderung vermeiden können. Und auf wheelmap.org werden weltweit Orte aufgeführt, die für Rollstuhlfahrer geeignet sind. Warum Raúl Krauthausen im Rollstuhl sitzt, werden Sie in diesem Text übrigens nicht erfahren. Warum das auch nicht nötig ist, erklärt er im Interview.

(c) Julia Nimke

Foto: Julia Nimke

Herr Krauthausen, Ihr ­Gesicht kennt man aus Funk und ­Fernsehen. Wie viele ­Interviews ­haben Sie eigentlich so in den vergangenen zwei ­Jahren ­gegeben?
Raúl Aquajo-Krauthausen: Ich schätze mal, so zwei die Woche? Letztes Jahr kam mein Buch „Dachdecker wollte ich eh nicht werden“ auf den Markt, das waren einige Interviews. Und natürlich funktionieren Medien so: Bist du einmal drin, wirst du ­weiter ­angefragt.

Stört Sie das?
Grundsätzlich finde ich es erst mal gut, wenn ich eine Botschaft vermitteln darf. Trotzdem würde ich mir wünschen, dass das Thema Inklusion von mehr Menschen mit Behinderung an die Öffentlichkeit getragen wird. Inzwischen versuche ich bei Interview­anfragen, andere Menschen mit Behinderung zu vermitteln oder mit einzubeziehen. Werde ich zum Beispiel zu Podiumsdiskussionen eingeladen, achte ich darauf, dass ich nicht der Einzige mit Behinderung bin, der an der Diskussion teilnimmt. Um zu zeigen, dass Behinderung nicht gleich Behinderung ist, dass es Blindheit gibt, dass es geistige Behinderungen gibt. Und Frauen, die sind nämlich medial in diesem ­Bereich ebenfalls unterrepräsentiert.

Journalisten lassen sich ja ungern ihre ­Recherche und ihre ­Interviewpartner ­vorschreiben. Wird das akzeptiert, wenn Sie da so reingehen? Die ­haben ja nicht ­umsonst Sie angefragt.
Viele Journalisten sind für solche Hinweise schon dankbar. Man muss Medienmechanismen ab und an auch mal durchbrechen. Ich habe am Wochenende von zwei ALS-Erkrankten erfahren, die von geplanten Interviews wieder ausgeladen wurden, weil sie über einen Sprechcomputer kommunizieren. Das mache sich telemedial nicht so gut, hieß es zur Begründung. Was natürlich hanebüchen ist, denn ­allein die Tatsache eines Sprachcomputers bietet ja schon viel visuelles Potenzial.

Sind die Medien also etwas eindimensional und fantasielos, wenn sie sich mit Behinderung auseinandersetzen?
Nicht nur das und nicht nur die Medien. Neulich war ich beim Tag der offenen Tür der Bundesregierung, wieder auf einem Podium, um über das Thema Inklusion zu diskutieren. Da war nur leider kein einziger Politiker anwesend. Menschen mit Behinderung werden oft als Feigenblatt benutzt. Selbst in Verbänden und Institutionen, die sich explizit der Inklusion verschrieben haben, ist das zu beobachten. Da diskutieren meist Leute über das Thema, die selbst gar keine Behinderung haben. Man spricht über uns, selten mit uns. Eine riesige Wohlfahrtsindustrie hat in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland Schonraumfallen errichtet. Da wachsen Menschen mit Behinderung in Förder- und Sondereinrichtungen auf und lernen die weite wilde Welt nicht kennen. Dem wollen wir mit unserem Verein Sozial­helden entgegenwirken: Indem wir Menschen mit Behinderung moderner präsentieren.

Sie betonen immer wieder, dass nur drei Prozent ­aller Menschen mit Behinderung diese von Geburt an haben. Der Rest „erwirbt“ sie erst später, sei es durch Unfall, Ater oder Erkrankung. Das ist ja schon eine beeindruckende Zahl, die mich auch überrascht hat. Ist es Aufgabe der ­Medien, dies deutlich zu machen: Leute, mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit werdet ihr selbst irgendwann eine Behinderung haben, kümmert euch!
Na ja, ich will den Leuten ja keine Angst machen. Sondern kommunizieren, dass auch ein Leben mit Einschränkungen schön und lebenswert ist. Ich appelliere an Politik, an Architekten, an Städtebauer, dass Barrierefreiheit ein Thema ist, das viele Menschen in unserer Gesellschaft betrifft oder betreffen wird. Und den anderen will ich sagen, dass Behinderung eine Art Lifestyle sein kann.

Bitte?
Ein unfreiwillig gewählter Lifestyle zwar, mit dem man aber bestmöglich versucht zu ­leben. Man muss einen Rollstuhl ja nicht unbedingt mit Krankenhaus assoziieren, sondern vielleicht einfach als Gefährt auf zwei Rädern betrachten. Wie ein Mountainbike ­meinetwegen.

Das klingt jetzt aber ­etwas ­theoretisch.
Natürlich wird man die Einstellung nicht von jetzt auf gleich ändern, und sicher auch nicht in dem Sinne, dass Behinderung plötzlich als was Positives empfunden wird. Aber denken wir doch mal an den Film „Ziemlich beste Freunde“. Da haben viele Zuschauer gemerkt, dass Behinderungen auch humorvoll betrachtet werden können – wenn man mit, nicht über jemanden lacht. Es gab durch diesen und andere Filme eine Annäherung von Behinderten und Nicht-Behinderten. Kultur und Medien können besser als irgendeine Verordnung in der Politik vermitteln, dass Menschen mit Behinderung nicht den ganzen Tag mit den ­Tränen kämpfen müssen.

Es braucht also ­mediale ­Präsenz. Was bringt es ­Unternehmen, zum ­Beispiel in der Öffentlichkeits­arbeit auch auf Menschen mit ­Behinderungen zu setzen?
Wenn man Menschen mit Behinderung erreichen will, hilft es, wenn jemand aus dieser Zielgruppe mit an der Botschaft arbeitet. Ich glaube, das versteht sich von selbst. Ich würde bei Medien sogar gewisse Zugeständnisse machen. Eine Pressesprecherin oder ein ­Tes­timonial in einer Kampagne muss natürlich gewissen ästhetischen Grundprinzipien entsprechen.

Also makellos sein?
Nein, das nun gerade nicht. Aber man sollte als Pressesprecher reden können. Eloquenz, Talent sind auch Faktoren, die nicht von einer Behinderung abhängen. Menschen mit Behinderung könnten eine viel größere Rolle in der Öffentlichkeitsarbeit von Unternehmen und Institutionen spielen, als sie es derzeit tun. Eines der wenigen Positivbeispiele ist Verena Bentele, die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung.

Kann man Behinderung ­vielleicht sogar zur positiven Botschaft drehen?
Ich bin fest davon überzeugt, dass das Unternehmen, das als Erstes mit Menschen mit Behinderung wirbt, die mediale Welle machen wird. Man kann das vergleichen mit Menschen mit Migrationshintergrund. Bei denen war es bis vor gar nicht allzu langer Zeit undenkbar, dass sie die Tagesthemen moderieren, also in einer Rolle an die Öffentlichkeit gehen, die nichts mit ihrem Migrationshintergrund zu tun hat. Warum soll das bei Menschen mit Behinderung nicht auch funktionieren? Die bes­ten Reisetipps für Superreiche – so eine Sendung kann auch ein Mensch im Rollstuhl moderieren.

(c) Julia Nimke

Foto: Julia Nimke

Sie haben Werbung studiert, seitdem viel in und mit Medien gearbeitet. Haben Sie den Eindruck, dass Medienmenschen, eine ja sehr homogene Masse, das Thema Behinderung überhaupt auf dem Schirm haben?
Je öffentlich-rechtlicher, desto ja. Dort achtet man auf die Quote und darauf, dass Behinderung auch journalistisch thematisiert wird. Aber generell sind Medienmacher viel unter sich. Man kann als Werber in einer Welt leben, die nichts mehr mit der Außenwelt zu tun hat – und in der Behinderung oft gar nicht vorkommt. Da besteht die Gefahr, dass dieses Bild reproduziert und dadurch verstärkt wird. Dann wird natürlich auch nicht mehr hinterfragt. Und plötzlich lese ich in einem Text über mich, dass „Raúl Krauthausen an den Rollstuhl gefesselt ist“. Ja Mensch, frage ich mich dann, wer hat mich denn da gefesselt und warum ruft niemand die Polizei? Der Rollstuhl bedeutet für mich Freiheit, nicht Fesseln.

Was raten Sie Medienleuten, wenn Sie über Behinderung ­berichten?
Betrachten Sie Behinderung einfach als eine Eigenschaft wie die Haarfarbe. Wenn es eine für die Geschichte relevante Tatsache ist, dann kann und muss man sie nennen. Aber oft ist die Behinderung nicht wirklich prägend. Wer über mich schreibt und darüber, dass ich die „Sozialhelden“ gegründet habe, der sollte sich fragen, ob es wirklich so naheliegend ist, meine Behinderung in den Mittelpunkt zu stellen. Klar, werden dann die meisten sagen. Aber geht es vielleicht mehr um meinen Unternehmergeist, der nichts mit der Behinderung zu tun hat? Und geht es nicht um das Unternehmen? Vor Kurzem habe ich eine schöne Geschichte von einem sechsjährigen blinden Mädchen gehört, das passt ganz gut. Das Mädchen kam gerade vom Bäcker, wo die Mutter ihr einen Keks gekauft und in die Hand gedrückt hat. In der anderen Hand hielt das Kind den Blindenstock. Ein anderes Mädchen fragt sie, was sie da in der Hand hat? Und sie sagt: Einen Keks natürlich.

Mit leidmedien.de haben Sie einen Online-Ratgeber ins ­Leben gerufen, in dem ­Medienmacher beraten werden, wie sie über Behinderung schreiben sollten und welche Formulierungen vermeiden. Ich habe dieses ­Angebot selbst mal benötigt. Ehrlich gesagt: Manchmal ­hatte ich schon das Gefühl, dass man ganz schön viel falsch ­machen kann. Wie viel ­Political ­Correctness verträgt das ­Thema – und wann ermüdet es?
Ich weiß, was Sie meinen, auch aus eigenem Erleben. Wir hatten bei den Leidmedien am Anfang eine sehr anstrengende Debatte darüber, ob wir auf der Seite gendern. Wir entschieden uns dafür – und es hat uns überhaupt nicht geschadet. Es gibt ja auch schöne Formen des Genderns. Man kann bewusst damit brechen, indem man zum Beispiel von „Pilotinnen und Kassierern“ spricht. Das ermöglicht dann wieder ein Spiel mit der Sprache. Ich habe eher das Gefühl, Journalisten sind für unsere Tipps dankbar. Die mögen ja auch keine Fettnäpfchen.

Glauben Sie, das Thema ist ­irgendwann abgeschlossen, Ihr Ziel erreicht?
Nein, das ist ja keine Agenda 2025 oder so. Mein Thema ist die Inklusion, also der Prozess der Annahme und der Bewältigung von menschlicher Vielfalt. Vielfalt wird es immer geben, wenn auch in immer anderer Form. Und genauso wird sich der Inklusionsgedanke ­wandeln. Verschwinden wird er nicht.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Haltung – Das Gute kommunizieren. Das Heft können Sie hier bestellen.

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